Otto Neurath an Rudolf Carnap und Charles W. Morris, 4. August 1939 August 1939

Lieber Carnap
Lieber Morris

Ich hatte noch ein längeres Gespräch mit Schapiro.

GRAMMAR OF UNIFIED SCIENCE klingt ihm fremder als GRAMMAR OF SCIENCE, aber STEBBING hatte nichts dagegen.

Er findet, daß man bei Grammar zunächst an ein Kompendium denkt‚aKsl. ja!. aber gibt zu, daß man den Begriff ausdehnen kann. Er wußte keinen anderen Titel als Gegenvorschlag. Er findet „Method“ ebenso „banal“ (das war sein Wort) wie ich selbst. Durch Pearson ist GRAMMAR OF SCIENCE eingeführt in unserem Sinne, sogar mit UNITY OF SCIENCE verbunden.

Ich bin also für:

GRAMMAR OF UNIFIED SCIENCE, Kompromiß: GRAMMAR OF SCIENCE

III. SYSTEMATIZATION. Als Kompromiß (kein gutes) GENERAL GRAMMAR OF SCIENCE. Schapiro sagt, Systematization sei kein sehr wertvolles Wort, aber ganz gebräuchlich und ordentlich. Kein üblicher Titel, daher etwas lockend. Und umfaßt gut: AXIOMATIZATION, THEORY OF THEORIES, THEORY OF HYPOTHESES, THEORY OF INDUCTION, GENERALIZATION, ENCYCLOPEDISM AND SYSTEM etc.

IV. CALCULUS AND SCIENCE. Als Kompromiß (kein gutes) MATHEMATICS AND LOGIC IN THE GRAMMAR OF SCIENCE:

Schapiro meint, daß man bei Calculus zuerst an Differential Calculus denkt, aber daß der Terminus auch allgemeiner aufgefaßt werde. Es käme darauf an, ob man das genügend ausdrücken könne. Gegen Calculus und Science hat er das Bedenken, daß es aussieht, als ob Calculus neben den Sciences ist.

Ich glaube nicht, daß jemand beim Kaufen meint, er kaufe die Anwendung der Differentialrechnung in den Wissenschaften, wenn er die umfassenden Haupttitel sieht. 🕮

V. GRAMMAR OF COSMOLOGY AND PHYSICS, oder gutes Kompromiß:

GRAMMAR OF PHYSICS.

Auch hier GRAMMAR gut, da ja, wie Carnap und Morris es so gern wollen, die science of science gut hereinpaßt. Freilich teilweise führen wir die Grammar vor, indem wir zeigen, wie eine Darstellung in unserer Auffassung aussieht, aber oft reden wir auch drüber. Beides wird vorkommen.

Ich hoffe [auf] immer mehr vorbildliche Darstellung, insbesonders in der dritten Serie. Und dann rückwirkend in Serie I und II. Ich würde meine Empirische Soziologie heute etwas anders schreiben, mehr trennen, was Metasprache und was Wissenschaftssprache ist. Wie viel von dieser Einsicht verdanken wir Carnap.

VI. GRAMMAR OF BIOLOGY AND THE THEORY OF BEHAVIOR oder besser nur Biology.

Psychology unter keinen Umständen in einem Bandtitel. Ich schrieb darüber im Luftpostbrief. Dies ist teilweise Rekapitulation und Ausführung.

Die Leser verlangen nicht so genaue Titel, wie Carnap meint, weshalb sie dann trivial sein müßten, man kauft uns, weil wir nette Burschen sind oder weil man uns für Greuel hält, aber nicht weil der eine Titel so oder so trivialer verständlich ist.

Bibliotheken kaufen aus Anstand und Sitte, aber NIEMAND, weil ein Titel ihm Triviales besser erzählt als ein anderer, weniger trivialer Titel.

Ach laßt die Sorge. Ich habe EINHEITSWISSENSCHAFT nicht aufgegeben, obgleich man mich fragte, was denn mit dem Einheizen ist, mit „EinheizWissen 🕮 schaft“. Will man Terminologie ändern, dann immer, wenn man was Neues beginnt.

Wenn ich die Bedeutung unserer Enzyklopädie nicht überschätze, so liegt mir doch sehr daran, daß sie einfach in jeder besseren öffentlichen und privaten Bibliothek sein soll. Und auch um des Verlags willen, der so bereitwillig den Erfolg der ersten Hefte nicht nur anerkannte, sondern sogar honorierte, müssen wir uns bemühen, ohne uns etwas zu vergeben, Erfolg zu haben. Der beruht auch darauf, daß eine solche sicherlich eigenartige Sache auch eigenartig auftritt. JEDER NEUARTIGE oder UNGEWOHNTE TERMINUS ist ein Vorteil, wenn man ihn an sich vertreten kann. Wir sind eigenartig und befriedigen ein Bedürfnis der Allgemeinheit.

Vielleicht vertraut Ihr meinem Rat mehr, wenn ich Euch dies erzähle. Mein MODERN MAN IN THE MAKING ist jetzt in USA im Druck, heute kommt der holländische Verleger und erzählt mir, daß er und die Schweden zusammen beschlossen haben, für eine Auflage von 12.000 Exemplaren das Papier zu kaufen, weil man das Buch gleichzeitig für die kleinen nordischen Staaten in Holländisch und Schwedisch herausbringen will. Das Buch ist Englisch noch gar nicht heraus! Wie zu erklären? Es ist EIGENARTIG. Das erste Buch im PICTURE-TEXT-STYLE, es befriedigt ein Bedürfnis, der Titel ist nicht marktschreierisch, aber doch irgendwie „bewegt“ und daher „bewegend“. Man weiß nicht, ist das social, biologisch, künstlerisch usw., handelts vom Geist? Usw. Aber es „lockt“. Ebenso das Inhaltsverzeichnis. Einiges deutlich, anderes verheißend usw., verschiedene Interessen berührend usw. Dabei ganz schlicht, unemotionell usw. Ich glaube, daß ich ein wenig Erfahrung habe. Es ist nicht gut, wenn die Bände wie eine Kinderbibliothek heißen: Aus Trotzköpfchens Mädchenjahren, Trotzköpfchen als Braut, Trotzköpfchens Ehe, Trotzköpfchens Töchter…Trotzköpfchen in Italien usw. Dort mag das gehen, wie die drei amerikanischen Raubersbuam, die in Alaska, Texas usw. überall waren, und dann gibts ein Buch über jede Gegend, immer mit dem gleichen Titel.

Eine Reihe, in der CALCULUS vorkommt, ist viel reizvoller als eine, in der nur MATHEMATICS AND LOGIC vorkommt. Die „And“ sind eh nicht gut. Ich ließe gern Theory of Behavior und ebenso Humanistic Sciences weg und erwähnte nur, daß das behandelt wird unter diesen Titeln, „and“ ist nie sehr gut. Ich wäre dafür, den Schlußband anders zu nennen, etwas lebendiger.

VII. GRAMMAR OF THE SOCIAL SCIENCES AND THE HUMANISTIC SCIENCESbKsl. (über AND THE HUMANISTIC SCIENCES) ja, das kann vielleicht weggelassen werden.. Oder besser GRAMMAR OF THE SOCIAL SCIENCES.

VIII. HISTORY OF THE SCIENTIFIC ATTITUDE. Das schlug ich am 13. Juli vor und komme wieder darauf zurück. Das interessiert sehr viele Menschen ernstlich. Und wenn wir es auch ganz unemotionell machen, so klingt doch etwas vom Leben hinein. Wie anders ist das als HISTORY OF THE GRAMMAR OF SCIENCE (oder HISTORY OF SCIENTIFIC METHOD). Bei Scientific Attitude geben wir uns das Recht, etwas mehr über die wissenschaftliche Haltung im Leben zu sprechen, wie z. B. in der Demokratie die wissenschaftliche Haltung eine Rolle spielt. Man kann ebenso erzählen von der wissenschaftlichen Haltung bei Leonardo, alles erwähnen, was auf „Methode“ Bezug hat, aber auch, wie weit diese Haltung sich ausbreitete.

Schade, daß ich so weit weg bin und mein armes Schreiben nicht die Fülle möglicher Argumente vorführen kann. Bitte seid im Interesse der Sache nicht zu pedantisch, es ist nicht richtig, daß alles in Langweile enden muß, damit die systematische Ordnung eingehalten werde, dies eh nicht gibt. Lieber sagen, wir sprechen über dies und das, was dazu gehört, weils dazu gehört. 🕮

Wie gut kann man unter SCIENTIFIC ATTITUDE fortsetzen, was DEWEY in Heft 1 begonnen hat. Da kann allerlei über Wissenschaftssoziologe gebracht werden, nicht nur wie die scientific attitude aussieht, auch wie sie auftritt, warum kann ich das alles nicht intensiver ausdrücken.

Ich kann nur sagen, daß so ein Prospekt mir lebendiger dünkt, verschiedenartigere Interessenten anziehen – wie wir ja verschiedenartige Menschen bewegen, nicht nur Wissenschaftslogiker und solche, die sechs Bände METHODE schlucken wollen. Wer will denn das? Ich bin also dafür, wenn irgend möglich etwas zu bekommen, das so aussieht. Ich habe aber angegeben, auf welche Kompromisse ich mich einlasse bei VIII, z. B. HISTORY OF THE GRAMMAR OF SCIENCE, wenn wir den Prospekt nur hinausbekommen, denn es ist wichtig, daß es rasch geschieht, wer weiß, was noch alles passieren kann. Bitte keine Pedanterie. Wir können ja später noch so viel ändern. Und die Grundzüge sind ja klar und über den Text des Prospekts sind wir ja auch einig, wie ja überhaupt in dem, was wir zusammen machen wollen. Ich rate also:

Bd. III–VIII. INTERNATIONAL ENCYCLOPEDIA OF UNIFIED SCIENCE – GRAMMAR OF UNIFIED SCIENCE

Ich wäre wirklich froh, wenn Ihr das annehmen könntet, wenn aber nicht, eine Variation, die eine der Alternativen, die ich oben erwähne, berücksichtigt, aber womöglich den frischen, lebendigen Charakter dieser Benennungen nicht ganz zerstört. Ich glaube, alle „and“ sind für die Propaganda störend. Man muß aber im Prospekt, wie soeben gesagt, erwähnen, und zwar unterstrichen, daß PHYSICS die COSMOLOGYcKsl. nein!. mitumfaßt, die BIOLOGY auch die THEORY OF BEHAVIOR, das was man gemeinhin PSYCHOLOGY nennt‚dKsl. ja. und daß die SOCIAL SCIENCES (die bei mir ja auch animal sociology umfassen) auch die HUMANISTIC SCIENCES.

Hoffen wir, daß meine Bitten und Vorschläge nicht auf zu harten Widerstand stoßen. Ich denke mir, daß Morris eigentlich die jetzige Fassung von Vol. VIII schätzen müßte. Und wir haben in der Hand, wie wir das behandeln. Man kann z. B. erzählen, wie die wissenschaftliche Haltung sich aus der magischen entwickelt (vgl. Thorndike) usw. Kurzum Dinge, die allgemeinen Interesses sicher sind, was man von HISTORY OF SCIENTIFIC METHOD bestimmt nicht sagen kann, zumal das stark wiederholen würde, was schon vorher gesagt ist. Dies Vol. VIII mit ATTITUDE bringt aber etwas Elan in die Bude, und zwar von uns geschätztem Elan, sachlich, unemotionell und doch LEBENSNAHE.

Also, hoffen wir das Beste. Kardinäle, ich habe das meinige getan, tut nun das Eurige!

Mit herzlichen Grüßen

Euer
Nth

Brief, Dsl., 4 Seiten, RC 102-53-06 (weiterer Dsl. ON 222); Briefkopf: gedr. International Institute for the Unity of Science mit näheren Angaben, msl. 4. August 1939, hsl. Carnap.


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