\brief{Otto Neurath an Rudolf Carnap, 3. August 1939}{August 1939} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{ Ich eile, auf Deinen Brief vom 24. Juli zu antworten, in der Hoffnung, daß wir uns über den Titel der zweiten Serie einigen. DENN DER MUSS FESTLIEGEN -- die Aufschriften der einzelnen Bände können wir später ändern, weil wir das ja ausdrücklich immer erklären „Änderung vorbehalten“. BITTE ACHTEN, DASS DAS NICHT VERGESSEN WIRD. Ich lege Dir sehr nahe, im Interesse der großen propagandistischen Bedeutung, die es für unsere Arbeit hat, daß wir den Prospekt in HARVARD vorlegen, mit dem Titel GRAMMAR OF UNIFIED SCIENCE Dich einverstanden zu erklären oder UNIVERSAL GRAMMAR OF SCIENCE oder, wenn Du das nicht glaubst verantworten zu können, soll mir als Kompromiß recht sein, um zu einem Ende zu kommen: GRAMMAR OF SCIENCE. Ich bin dafür, daß der Untertitel etwas von der Zusammenfassung enthält, weil \uline{sehr oft} die Serie zitiert werden wird und nicht immer der Enzyklopädietitel. Aber mir liegt so viel [daran], daß es jetzt gedruckt wird, daß ich Dir darin gern nachgebe. Ich glaube, Du stellst Dir die Psychologie der Käufer, der Interessenten usw. unrichtig vor. Ich habe mich mit diesen Fragen aus Interesse viel beschäftigt, und sicherlich manchmal mit praktischem Erfolg. Wie gut war der Titel WIENER KREIS, zum Teil, weil er so wenig aussagte. So konnten recht differierende Neigungen innerhalb eines doch einheitlichen Zusammenseins mit einem Namen versehen werden, der sehr rasch populär wurde, wie ichs prophezeihte. Vor allem unterschätzt Du die NEUGIER der Käufer. Ein Buch soll durch die EIGENART DES TITELS ausdrücken, daß es eigenartig ist, wenn es das ist. METHOD ist von ungemeiner Bekanntheit und Trivialität. Andererseits ist GRAMMAR bekannter, als Du annimmst, es gibt außer GRAMMAR OF SCIENCE von PEARSON Grammar of Arts, Grammar of Ornaments usw., wie mir gestern Schapiro erzählte, der eben hier ist. Language ist, wie Du selbst fühlst nicht so gut, weil, wie Schapiro sofort sagte, das Wort Grammar irgendwie die \uline{MORPHOLOGIE} der Sprache andeutet. Und um das geht es. Ein Buch mit dem Titel GRAMMAR OF UNIFIED SCIENCE ist sicherlich anziehender für den Außenstehenden -- ohne Zweifel. Da GRAMMAR von uns bisher nur wenig verwendet ist, läßt es offen, wie weit Syntax, Semantik usw. drunterfallen. GRAMMAR OF UNIFIED SCIENCE ist ein RICHTIGES PROGRAMM: es besagt, wir bemühen uns um eine Art der Formulierung, so daß wir, wie Mach sagt, die Sprache nicht ändern müssen, wenn wir von einem Gebiet zum anderen hinüberkommen wollen. Und nun bemühen wir uns ja in den Teilen, die ein engerer Kreis bearbeitet, innerhalb einer einheitlichen Ausdrucksweise zu bleiben, der gegenüber die abweichenden Ausdrucksweisen der verschiedenen Schulen stehen, die ja auch dann „abweichend“ sind, wenn wir sie zur Not übersetzen können. Es ist ja schon ein Manko in unserem Sinne, wenn zwei an sich völlig empiristische Phrasen, die gleiche Bedeutung haben in zwei Disziplinen, verschieden lauten, etwa in einem Fall aus drei Termen besteht, im andern aus zwei, die einer anderen Terminologie angehören, von den schwierigeren Fällen ganz zu schweigen. Ich kann nun wiederholen, daß ich sehr gut in unserem Sinn sagen könnte, FREUD's Ausdrucksweise könne so und so umgewandelt werden, daß wir dann die Übersetzung mithilfe unserer Universal Grammar vornehmen können. Aber ich wüßte nicht, wie ich mich ausdrücken sollte, damit ich dies sage mithilfe des Wortes Methode? Unter Methode versteht man doch die Forschungsweise oder so was. Ich habe schon eingesehen, daß „Procedures“ auch schlecht geht (ich hatte ursprünglich gemeint, daß die „sprachliche Verfahrungsweise“ mit dazu zählt, aber das gilt ebensowenig von Method wie von Procedure, wohl aber von Grammar). \neueseite METHOD AND LANGUAGE klingt umständlich. Doppeltitel kann man wohl nur für Bände verwenden. GRAMMAR ist anziehend, versprechend, METHOD ist dürr. Sag Dir beide Worte mal vor und such zu assoziieren. So machen wirs, wenn wir mit Fachleuten Büchertitel, Ausstellungstitel usw. oft stundenlang diskutieren. Schau, bei GRAMMAR kommt irgendwie das Gefühl, daß es sich um ein \uline{GEBÄUDE} handelt, mit vielen Teilen, die zusammengehören, da gibts eine Wortlehre, eine Syntax, eine Lehre von der Anwendung von Regeln, Stillehre usw., und es handelt sich jedenfalls um \uline{SPRACHE} DER WISSENSCHAFT. Bei METHOD hat man matte Assoziationen, nichts von Gebäude -- eher von Weg zu etwas hin, oder dgl. -- es geht um Einzelnes, dazu kommt, daß es den fatalen Streit gibt, ob die Wissenschaften nach „method“ oder „material“ verschieden sind, und man fragt naheliegenderweise, ob bei uns die Unity of Science auf „method“ beruht oder „material“ -- während wir doch die Unity of Grammar betonen und uns in jene Antithese nicht hineinbegeben wollen. VOL. III. SYSTEMATIZATION ist ein gutes WEBSTER und OXFORD Wort. SYSTEMATIZE. Es ist etwas „learned“, aber unter diesem Titel kann man gut von „Enzyklopedism“ sprechen, auch darüber, wie man früher mithilfe eines Systems der Wissenschaften die Artikel der französischen Enzyklopädie verbunden hat, während bei uns Axiomatisierung usw. eine viel größere Rolle spielen. Da man uns vorwirft, daß wir zuwenig auf Systeme achten, wäre es gut, dies durch Vol. III zu widerlegen. Aber ich würde als Kompromiß annehmen: GENERAL GRAMMAR OF SCIENCE. Das hat sogar viel für sich. Aber SYSTEMATIZATION zöge ich vor. VOL. IV. CALCULUS AND SCIENCE können wir sagen, wenn wir in der Vorrede betonen, daß wir CALCULUS allgemein verwenden. Das zeigt auch der Titel. Wir leisten eine gute Arbeit, wenn wir endlich einen allgemeinen Terminus propagieren statt Logic and Mathematics. Die Sprache ist in UMBILDUNG, warum sollen wir nicht vorn sein?\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Gewiß! Aber nicht in den Titeln.}}.} Im OXFORD von 1918 ists, wie Du angibst, aber im WEBSTER von 1936: „\ldots\uline{any process of reasoning} by the use of symbols\ldots“ und erst unter „b. Specif. a method of analysis, usually called differential calculus\ldots\ and\ldots“ Wir haben eine gewisse Autorität, und wenn wir CALCULUS AND SCIENCE sagen, dann ändern wir mit allen anderen, die Webster bereits im Auge hat, den Sprachgebrauch in der Richtung, die wir wünschen. Falls sonst kein Einwand gegen CALCULUS AND SCIENCE ist, wäre ich für den Titel. VOL. V. Ich bin unter allen Umständen gegen PHYSICAL SCIENCES, weil ich, wie Du weißt, die Klassifikation PHYSICAL SCIENCES (zu denen dann z.\,B. die GEOLOGIE gerechnet wird usw.), BIOLOGICAL SCIENCES usw. direkt angreife, also unmöglich in der Enzyklopädie zulassen kann. Ihr habt ja sicher nichts gegen den normalen Terminus PHYSICS, das ist nicht \uline{klassifikatorisch}. Bitte FRANK fragen, ob gegen COSMOLOGY AND PHYSICS ein Bedenken besteht. Als Kompromiß: GRAMMAR OF PHYSICS. COSMOLOGY ist verständlich genug und anziehend. Wer von Jeans und Eddington hörte, kauft lieber COSMOLOGY AND PHYSICS als PHYSICS allein. Aber, schließlich müssen wir uns ja einigen. Selbst wenn Frank ja sagt, magst Du recht behalten. VOL. VI. Wie Du sagst, auf keinen Fall COSMOLOGY im Bandtitel, so sage ich, \uline{auf keinen Fall} Psychology. Wir haben in der ersten Reihe Theory of Behavior als Kompromiß, so bleibe es denn auch in der zweiten Reihe. Du hast gesehen, wie viel[e] Subskribenten wir haben, auch ohne PSYCHOLOGY. Menschen, die uns kaufen, sind klug genug zu verstehen, daß wir eben BEHAVIOR statt PSYCHE behandeln. THE PUBLIC IS NO MORON. Also GRAMMAR OF BIOLOGY AND THEORY OF BEHAVIOR. VOL. VIII. Ich habe aus lauter Kompromißeifer zugestimmt GRAMMAR OF THE SOCIAL AND HUMANISTIC SCIENCES, obgleich ich die Hervorhebung der Humanistic Sciences nicht sehr liebe, aber da ich ja die human sociology neben der animal sociology und der plant sociology habe, so sollen die Humanistics Sciences, an denen Morris liegt, mit drein gehen. Schließlich gehts ja um Kooperation und wir müssen unsere verschiedenen Eigenheiten ein wenig berücksichtigen. ICH BITTE DRINGEND UM ANNAHME DER VORSCHLÄGE, damit der PROSPEKT SOFORT GEDRUCKT WIRD. Herzlichst} \grussformel{Otto Neurath} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846508}{RC 102-53-04 (Dsl. ON 222)}; Briefkopf: msl. \original{International Institute for the Unity of Science\,/\,Transatlantic Airmail} und \original{3.~August 1939}, ksl. \original{bekommen 8.8.}.}