\brief{Rudolf Carnap an Otto Neurath, 24. Juli 1939}{Juli 1939} \anrede{Lieber Neurath:} \haupttext{ Vor ein paar Tagen habe ich Dir ausführlich geschrieben. Da kommt aber soeben Dein neuer Brief vom 13. Juli mit dem Prospektentwurf „Grammar Of Unified Science“. Da will ich Dir doch sofort darauf schreiben und Kopie an Morris schicken. Es wäre ja doch gut, wenn wir möglichst bald zu einer Einigung kämen, damit wir beim Kongreß die neue Reihe offiziell ankündigen können. Dein Wunsch, durch den Titel der Reihe schon zu betonen, daß unsere Wissenschaftstheorie die Analyse der Sprache in den Vordergrund rückt, ist mir natürlich sehr sympathisch, da ich ja immer betont habe, daß Wissenschaftslogik Sprachanalyse ist, und dieser Gesichtspunkt ist auch in Morris und meinen Heften besonders betont. Aber das Wort „Grammar“ scheint mir doch noch nicht die richtige Lösung darzustellen. Zum Unterschied vom Text, wo wir unsere eigene Terminologie anführen können, müssen wir im Titel sowohl der Reihe als auch der einzelnen Bände unbedingt die übliche Terminologie anwenden. Denn es ist ja die Aufgabe des Titels, jemanden anzulocken, der noch außerhalb steht und ihm eine wenn auch noch so kurze Information darüber zu geben, was er vom Inhalt der Bände zu erwarten hat. Ich fürchte aber, daß das Wort „Grammar“ von Außenstehenden überhaupt nicht verstanden werden würde. Als Vorschlag für unsere eigene Terminologie wäre das Wort diskutierbar im Sinne von logischer (syntaktischer und semantischer) Struktur der Sprache; aber auch da noch habe ich einige Bedenken, obwohl es von Wittgenstein in ähnlicher Weise verwendet worden ist. Wenn wir den Hinweis auf die Sprache schon im Titel zum Ausdruck bringen wollen, können wir wohl kaum ein anderes Wort als „Language“ verwenden. Aber „Language Of Science“ würde doch ein viel engeres Gebiet umreißen als diese Reihe behandeln soll, wenigstens in dem Sinn, in dem ein üblicher Leser diesen Titel verstehen würde. Andererseits erscheint mir das Wort „Method“ einen guten Teil dessen, was behandelt werden soll, zu treffen. Wie wäre es nun mit einer Kombination? Etwa „Method And Language Of Science“ (in diesem Falle „method“ im Singular). Vielleicht wäre auch „Method And Logic Of Science“ zu erwägen. Aber das erste gefällt mir besser. Ich bin nicht dafür, im Titel der Reihe noch einmal „Unified Science“ zu sagen; ohne „unified“ ist es einfacher und auch leichter verständlich und das Wort „unified“ kommt ja schon im Haupttitel des Werkes vor. Das scheint mir zu genügen. Ich glaube, daß man die verschiedenen Richtungen der Psychologie usw. ebensogut als verschiedene Methoden bezeichnen kann wie als verschiedene Grammatiken. Beides ist dem Außenstehenden zunächst neu; beides \neueseite{} läßt sich aber von unserem Gesichtspunkte aus in einem gewissen Sinn rechtfertigen. Wenn Du sagst, daß der Inhalt der Enc\editor{yclopedia} nicht „Science of Science“, sondern „unified science“ ist, so möchte ich dem doch nicht ganz zustimmen. \uline{Unified} Science ist Ziel und Gegenstand der Enc\editor{yclopedia}. Die Enc\editor{yclopedia} spricht \uline{über} unified science, gehört aber selbst zur science of science; sie ist (wenigstens die erste und zweite Reihe zum weitaus größten Teil) in der Meta-Sprache formuliert. Das ist ja auch nach Deiner Auffassung so, sonst würdest Du nicht den Titel „Grammar of Science“ vorschlagen. Die Idee des „Universal Jargon“ ist anregend und wichtig. Ich habe aber einige Zweifel, ob der Term im Prospekt gebraucht werden sollte, da er ohne eingehende Erläuterungen doch wohl kaum verständlich ist. Nun zu den einzelnen Bänden: \uline{Vol. III.} Das Wort „Systematization“ gefällt mir nicht gut; es ist wohl verständlich, aber es klingt schlecht. Unsere Formulierung scheint mir nicht schlecht, aber vielleicht finden wir noch eine bessere. \uline{Vol. IV.} Ich stimme Dir vollständig zu, daß wir hier nicht im wesentlichen reine Logik oder Mathematik behandeln sollen, sondern in erster Linie ihre Anwendung mit der Gesamtwissenschaft. Dies scheint mir aber in unserer Formulierung durch den Zusatz „in science“ deutlich ausgedrückt zu sein. Wenn Dir das aber noch nicht deutlich genug ausgedrückt zu sein scheint, werde ich gerne einer Verbesserung der Formulierung zustimmen. „Calculus and Science“ geht leider nicht, obwohl es nach unserer Terminologie ganz gut stimmen würde. Aber in Amerika versteht jeder unter „calculus“ die Diff\editor{erential}- und Int\editor{egral}-Rechnung. \uline{Vol. V--VII.} Hier wieder wichtig: unbedingt übliche Terminologie, damit jeder weiß, was er kauft, daher Bedenken gegen „theory of behavior“; „Psychologie“ ist im Bandtitel sicherlich vorzuziehen. „Cosmology“ -- auf keinen Fall im Bandtitel, weil völlig unverständlich. Leider habe ich Dir neulich meine Bemerkungen zu Gunsten des Wortes „Method“ zu spät geschickt; sodaß Du sie nicht mehr berücksichtigen konntest. Darum beeile ich mich jetzt mit der Antwort und schicke gleichzeitig eine Kopie an Morris, sodaß er Dir auch hier über seine Ansichten schreiben kann. Ich denke, wir werden dann schon bald zu einer Einigung kommen. Schlimmstenfalls müßten wir die Fragen \neueseite{} der Formulierung der Titel und des Prospektes im September noch einmal mündlich zusammen durchsprechen. \medskip \noindent Ich weiß nicht mehr, ob ich Dir damals geschrieben habe, daß ich zu \uline{N\ae{}ss' Ms.} keine Bemerkungen zu machen hatte. Es ist in vielem anregend, aber an manchen Stellen hätte ich größere Klarheit gewünscht. Es war aber nicht so, daß ich glaubte, durch bestimmte Vorschläge da Verbesserungen anregen zu können. Soeben höre ich auf dem Umwege über Hempel, daß Franks Sache in Harvard perfekt geworden und schriftlich abgeschlossen ist. Sie fahren jetzt nach Canada, um von dort permanent einzureisen. } Herzliche Grüße, \grussformel{Dein\\R. Carnap} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846510}{ON 222 (Dsl. RC 102-53-05)}; Briefkopf: gedr. \original{Rudolf Carnap\,/\,Department of Philosophy\,/\,University of Chicago} und \original{Chicago, Illinois}, msl. ergänzt durch \original{July~24, 1939}.}