Otto Neurath an Rudolf Carnap, 22. Mai 1939 Mai 1939

Lieber Carnap‚

von Frank ist die Bestätigung für Strauss schon eingetroffen. Ich glaube, er ist nun „gerettet“. Er ist schon in London bei Stebbing angelangt. Rose R[and] bekommt jetzt endlich ihr Permit und ist wenigstens draußen. Die Leiden, die ihrer warten, werden sie sicher sehr bedrücken. Traurig. Was tun? Helfen, so gut man kann. Jetzt ist unmittelbar noch REACH zu erledigen, dann scheint mir zunächst alles, was mit uns zusammenhängt und weg muß, draußen zu sein. Tarski ist in übler Lage, wenn man ihn nur rausholen könnte.

Über die SERIE B müssen wir uns bald entscheiden, weil wir ja auf dem Kongreß Propaganda machen wollen. METHODOLOGY scheint mir nicht nur wegen der sehr ernsten Verwechslungen nicht gut, denn wenn die verschiedenen Psychologen sagen, was sie treiben und was durch unsere Darstellung nicht erfaßt werde, so kann man das schwerlich Methodology nennen. Wenn man darstellt, wie in der Quantenmechanik verschiedene Schwierigkeiten beseitigt werden können, andere entstehen, wenn man dies oder jenes tut, wie diese Auffassung andere Auffassungen hemmt usw., so ist das schwerlich „Methodology“. PROCEDURES entspräche eher. Ich möchte nicht sagen, daß GESTALTPSYCHOLOGIE, REFLEXOLOGIE usw. Verschiedenheiten der METHODE sind, wohl aber kann man sagen Verschiedenheiten der PROCEDURES‚aKsl. ? (Ist das nicht so?). wobei alles Mögliche einbezogen ist.

Die Zusammenstellung, die ich von Strauss machen ließ, ist noch in den ersten Anfängen. Natürlich soll das dann herumgeschickt werden. Es ist nicht so einfach, die Kombination der Meinungen aufzuzeigen. MATRIX.

Der Fall MEINER war schon ermüdend, immer wieder diplomatisch fein gedrechselte Briefe verfassen, zwischen dem nun schon ungeduldigen, beinahe grob werdenden Meiner und den völlig phlegmatischen und auch beinahe grob werdenden Holländern vermitteln (einige ihrer kritischen Äußerungen haben sie auf vieles Zureden weggelassen). Na jetzt ists geschafft und bald segelt das neue Schifflein ins Meer. Ich hoffe, wir werden in Hinkunft bei der Auswahl der Artikel einige Sorgfalt walten lassen. Die Artikel von 1937/38 sind nicht immer sehenswürdig.

Der Verlag versendet vom Dreifachheft so viel Exemplare als nötig ist. Die PRESS hat 300 verlangt und bekommt so viele. Die PRESS als unser AMERICAN AGENT führt die Versendung durch. Die Ingangsetzung so einer Sache ist immer recht mühsam, der Verleger, der Drucker müssen ja erst alles kennen lernen. Und dann soll alles möglichst aussehen wie bisher. Damit kein „Bruch“ mit der Vergangenheit eintritt. Den nächsten Band kann man dann typographisch erfreulicher ausstatten. All diese Rahmen usw. sind ganz gegen mein Gefühl. Aber so war eben damals von Euch die ERKENNTNIS ausgestattet worden. Ich nehme an, das hat der Drucker gemacht und es hat sich niemand drum gekümmert. 🕮

Von den von Dir Genannten werden wir wohl RUSSELL ein Exemplar der ErkenntnisbHsl. Encyklopädie?. senden (ich werde nochmal durchsehen, ob wir dann genug behalten und ob wir ihm es versprochen haben, ich glaube nicht). Alle anderen bekommen die ENZYKLOPÄDIE nicht, Feigl hat seinerzeit in Paris gesagt gehabt, er wolle fördern, hat dann aber nie Geld geschickt. Auf Grund der Pariser Zahlungen bekommen etwa zwanzig Enzyklopädieexemplare. Die Liste der Subskribenten durchzusehen ist sehr mühsam, die PRESS kann leicht feststellen, ob FEIGL dort abonniert hat, die anderen wohl kaum, Helmer, Waismann, Popper, Rand usw., wohl aber NÆSS. Ich glaube nicht Reach, Scholz, Strauss, Zilsel.

Was nun meine Polterbriefe wegen Philipp Frank anlangt, so kennen wir ihn ja beide ausreichend. Wann ist man jemandes Freund? Wenn man jemanden gern hat, obgleich man seine Fehler kennt. Wenn ich für Frank was unternehme, weiß ich schon, daß er schwerbeweglich ist. Nun folgendes, auch für die Zukunft. Ich neige nicht dazu, mich in fremde Angelegenheiten einzumischen, aber am Tag, da ich Chicago verließ, traf ich die beiden Franks wesentlich deprimierter, als ichs an ihnen gewohnt bin. Er in richtiger Sorge wegen Visum, und da sage ich eben, weils mir richtig schien, ich würde alles tun, was in meinen Kräften stehe, diese Angelegenheit zu ordnen. Ich rekapituliere:

Ich hatte ganz wenig Zeit. Mittwoch mußte ich nach HUDSON, Donnerstag zurück, abends in die Gegend von Pittsburgh, morgens am Samstag zurück und gleich Abfahrt. Daher Beziehung zu Newark angeknüpft, direkt und indirekt mit University of New York und New School of Soc[ial] Research. Courant war so lieb, ins Hotel zu kommen, versprach mir, gleich an Frank zu schreiben (ich teilte das Frank mit, ich weiß bis heute von Frank nicht, ob C[ourant] ihm geschrieben und kann so C[ourant] nicht recht danken, was ich sonst täte). Ich traf Kallen – bedenklich, es sei schon sehr schwer, etwas zu tun, zufällig Johnson da. Ebenfalls negativ. Da verlegte ich mich aufs Bitten und Darlegen, da ich Johnson kenne und er mir freundlich gesinnt ist (was noch lange nicht heißen muß, daß er sich meinetwegen exponieren würde, wenns nötig wäre) und da gab er, offenbar berührt von der Sachlage, nach. Darauf diktierte Kallen den von mir gefertigten Brief an Frank, damit nur ja nichts unrichtig berichtet wird.

Nun würde ich nie meinen, daß jemand gebunden ist, weil ich etwas „beschaffte“ (ich habe nicht recht herausgefunden, weshalb Du „beschaffte Professur“ unter Anführungszeichen setztest, wars Ironie?), es zu benutzen, wohl aber, daß nun die Gebräuche des Westens eingehalten würden. Da ich sah, wie sehr K[allen] und J[ohnson] betonten, daß die sofortige Zustimmung ungewöhnlich sei, schwierig usw., lag mir daran, daß Frank sofort irgend etwas tut. Ich dachte damals schon an die Möglichkeit, daß das Geld nicht rasch genug flüssig gemacht würde, und daß Frank dann eben Dir sein Geld von der Biographie geben würde und Du es dann eventuell vermehrt um ein wenig an Johnson schicken könntest. Frank hätte ja schreiben können, er danke für die Gastfreundschaft und hoffe, er werde sie nicht ausnützen müssen usw., es gibt ja viele Wege, um Entscheidung aufzuschieben und sich doch etwas zu sichern. Da ich aber fürchtete, es könnte etwas verschlampt werden (gleichgiltig wie die Konstruktion wäre, ob man nun annimmt oder ablehnt), habe ich an Dich telephoniert. Nun wäre normal zu erwarten, daß Frank am gleichen oder am nächsten Tag an Kallen einen zustimmenden, hinhaltenden oder absagenden Brief schreibt, mir den Durchschlag sendet, damit ich weiß, was weiter passiert. Abfahrt 11. März. Satt dessen kam am 1. April datiert ein Brief von Kallen des Inhalts: 🕮

As to Philipp Frank, his situation is not so healthy… Unfortunately, he sent me that information more than a week after we made the arrangement…I have suggested…etc.

Da ich mir dachte, daß Brief zu spät kommt, telegraphierte ich Dir, da mir Philipp einiges Geld wert ist. Nun wäre zu erwarten gewesen, daß Frank Kallen und mich weiter auf dem laufenden hält.

Statt dessen schrieb mir Kallen, daß er von Frank nichts weiter mehr gehört habe (siehe meinen Brief an Dich vom 12. Mai), er deutet zögernd an, sozusagen ganz unsicher, was er von so einem Fall denken solle, da ich alles tue, um Johnson und ihn zu einer Handlung zu bewegen, während der Betroffene ihn nicht einmal informiert. Er nimmt an, vermutet, daß Frank wohl etwas anderes gefunden habe, obgleich ich am 29. April schon das Telegramm von Hanja hatte, daß Frank in Harvard angekommen sei.

So ist eben unser Philipp und er wird sich nicht viel ändern und wir müssen unsere lieben Freunde konsumieren, wie sie sind. Aber man muß manches zu korrigieren trachten, deshalb schrieb ich Dir, deshalb telephonierte ich Dir. Ich entwickle das so breit, weil ja Ähnliches sich wiederholen kann. Ich bin der Meinung, 1. weiß man nie, ob Harvard nicht noch im letzten Moment mißglückt (zwischen Lipp’ und Kelchesrand…) und man tut gut daran, sich Johnson und Kallen interessiert zu halten, 2. auch wenn jetzt Harvard wird, kann man später selbst oder für andere Johnson und Kallen brauchen, daher soll man sie menschlich-freundlich behandeln, 3. scheint es mir sehr natürlich, daß man Menschen, die außergewöhnlich nett sind, rasch und prompt alles sagt, was vorliegt. Ich finde obiges schon weitgehendes Verschlampen. Angenommen das Kom[itee] hätte das Geld nicht bewilligt, so hätte es doch, wie ich oben schrieb, auf andere Weise eingezahlt werden können. Natürlich ist HARVARD gut und ich hätte Frank selbst geraten, Harvard anzunehmen, klar, aber man verscherzt sich viel, wenn man wie oben chronologisch berichtet verfährt, falls man die Sache dann doch machen will. Morgen kann ein Krach in HARVARD sein und Philipp wäre zufrieden, zu Johnson und Kallen gehen zu können. Was sollen sich die denken – siehe oben. Ich hoffe, daß Dir nun mein Gepolter begreiflich vorkommt, nachdem Du die Chronologie überdacht hast und daß ich hier sitze ohne eine einzige Zeile von Information seitens Frank von Abfahrt bis 29. April. Ich bekam ein Telegramm von ihm in USA, in dem er mir dankte, und jetzt einen Brief von ihm, in dem er mir dankte. Ich persönlich bin hier außer Spiel. Aber es ist wichtig, daß solche Dinge anders ablaufen und daß Du mir, lieber und guter Carnap, dabei hilfst, während Du ganz andere Argumentationen im Kopf hast, die nicht damit zusammenhängen, nämlich ob Frank nun etwas versäumt habe. Die „objektive“ Verhaltungsweise ist die des nicht rasch genug und des nicht üblichen Reagierens. Da wir aber allesamt arme Sünder sind und ständig Fehler machen, soll all das nur technischer Schulung dienen und nicht etwa Vorwürfe beinhalten.

Hier gibts viel zu tun, sehr viel. Das ist gut und hilft über trübe Zeiten hinweg. Es kam die Nachricht, daß sich eine Freundin in Wien vom 4. Stock eines Hauses herunterstürzte – tot. Was der Mann tun wird, ist ohnehin problematisch. Nicht mehr jung. Aus Palästina von Freunden trübe Nachricht. Intellektuelle Freundinnen in London – Dienstmädchen. Wie Josef Frank 🕮 sagt, früher wurde man von Seeräubern entführt, um Sklave zu werden, jetzt wird mans freiwillig. Wieder eine Visumschwierigkeit des Sohnes. Und dabei ist ja alles überhaupt noch im ungewissen. Eine quälende Situation.

Habe viel zu tun für Enzyklopädie, mein Artikel muß fertig werden – ich warte vergebens auf die Äußerungen von WIRTH.

Tinbergen arbeitet schon fest an seinem Heft, ich hoffe, daß Ihr Freundlich druckt, Woodger ist ziemlich fertig, es fehlt also wirklich nur der Botaniker, oder die Gruppe der Botaniker.

Schreib mal, was sich tut, ich hörte gern mehr über Menschen und Leben.

Gute Grüße an Dich und Ina

Dein
Otto Neurath

Brief, msl., 4 Seiten, RC 102-53-16 (Dsl. ON 222); Briefkopf: gedr. International Institute for the Unity of Science mit näheren Angaben, msl. 22. Mai 1939.


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