\brief[Carnap an Neurath, Chicago, 18.~April 1939]% {Rudolf Carnap an Otto Neurath, 18. April 1939}{April 1939} \anrede{Lieber Neurath,} \haupttext{ endlich will ich Dir mal auf zahlreiche Briefe, Telegramme und Telefonate antworten. Ich habe Dein Telegramm wegen Frank\IN{\frankphilipp} erhalten. Inzwischen sind aber die Nachrichten, die Du von Kallen\IN{\kallen} erhalten hattest, längst überholt. Frank\IN{\frankphilipp} will Dir selbst bald schreiben und seine Lage auseinandersetzen. Für den Fall, daß er das doch nicht sehr bald tut, will ich Dir schon mitteilen, daß augenblicklich Verhandlungen sowohl mit Harvard als mit der Northwestern University in Chicago im Gange sind, und zwar mit den Departments of Physics. Es scheinen hier ganz gute Chancen vorzuliegen, besonders in Harvard. Nur mit dem Komitee in New York\fnEE{Gemeint ist wohl das 1934 gegründete \textit{National Coordinating Committee for Aid to Refugees and Emigrants Coming from Germany}, noch 1939 reorganisiert und umbenannt zu \textit{National Refugee Service}.} scheint die Sache nicht ganz so günstig zu stehen, wie Frank\IN{\frankphilipp} auf Grund früherer Äußerungen von Miss Razovsky\IN{\razovsky} angenommen hatte. Dem Plan mit der New School hat Frank\IN{\frankphilipp} von Anfang an ziemlich skeptisch gegenüber gestanden. Ich habe den Eindruck, daß er nicht besonders gern dorthin gehen würde, und dann scheint er auch anzunehmen, daß die Committees für diese Schule wohl kaum Geld bewilligen würden. \cutcn{Freundlichs MS\fnEE{MS zu Finlay-Freundlich, \textit{Cosmology}.} habe ich gelesen und an Frank weitergegeben. Dann wird Morris es noch lesen, und wir drei werden dann darüber sprechen und Dir unsere Ansichten mitteilen. Vorläufig möchte ich nur bemerken, daß das Lesen meine Ansicht eigentlich noch bestärkt hat, daß das MS sich viel besser für die späteren Teile der Enzyklopädie eignen würde. Aber ich bin sehr gern bereit, meine Ansicht zu revidieren, wenn Frank und Morris anders darüber denken. Reach schrieb mir, daß er gern eine Kongreßeinladung hätte, um sie bei den Behörden zu verwenden. Ich habe Morris gebeten, ihm ähnlich zu schreiben wie an Käthe Steinhardt. Wenn Du darüber hinaus meinst, daß wir ihn für einen Kongreßvortrag einladen könnten, so schicke ihm bitte eine der üblichen Vortragseinladungen. Mir ist nicht ganz klar geworden, was eigentlich die Schwierigkeiten waren, die Meiner\IN{\meinerfelix} mit Stockum gehabt hat. Nach dem Durchschlag von Meiners\IN{\meinerfelix} Brief,%\fnEE{Meiners Brief ??? Schwierigkeiten mit Stockum ???} den er mir schickte, sah die Sache viel bedeutsamer aus als nach den Andeutungen, die Du jetzt machst. Ist die Sache inzwischen zur beiderseitigen Befriedigung beigelegt worden? Ich hoffe, daß das kein Anzeichen ist, daß Stockum zuweilen wichtige Dinge unerledigt liegen läßt. Wegen der Zusammenarbeit mit der Chicago Press wäre es wichtig, wenn wir über diesen Punkt \neueseite{} ein klares Urteil bekämen.} In der Sache meiner geplanten Untersuchungen zur Semantik\fnEE{Die \textit{Studies in Semantics} sind schließlich in drei Bänden erschienen, als Carnap, \textit{Introduction to Semantics}, \textit{Formalization of Logic} und (mit etwas zeitlichem Abstand) \textit{Meaning and Necessity}.} habe ich mir folgendes überlegt: Ich habe jetzt schon allerhand Material beisammen und habe auch die Absicht, im nächsten Herbst (den ich frei habe, da ich im Sommer hier unterrichten werde) weiter daran zu arbeiten. Es ist mir aber klar, daß es mehrere Jahre dauern wird, bis ein Buch fertig geschrieben und gedruckt sein würde. Ich habe mir gedacht, ob es nicht möglich ist, schon vorher einiges zu veröffentlichen. Das Interesse an diesen Fragen ist groß und im Ansteigen begriffen, und wenn ich in absehbarer Zeit durch Teilveröffentlichungen die Diskussion über diese Fragen anregen könnte, so würde dies auch mir selbst wesentlich helfen für die Fortsetzung der Arbeit. Der nächstliegende Gedanke wäre natürlich, zunächst Aufsätze für unsere Zeitschrift zu schreiben. Aber das scheint mir doch schwierig, da ich die Dinge, die ich darzulegen habe, kaum in solcher kurzen und für den weiten Kreis der Zeitschriftenleser geeigneten Form darlegen könnte; jedenfalls nicht ohne erhebliche Mehrarbeit. Daher bin ich auf den Gedanken gekommen, ob es nicht möglich wäre, eine Reihe von Broschüren, etwa im Umfange von je 60 bis 100 Seiten zu veröffentlichen. Ich glaube, ich könnte im nächsten Herbst 2 solche Hefte fertigstellen, und dann im Lauf des Jahres 1940 wahrscheinlich wieder 1 oder 2. Vielleicht könnte ich dann in späterer Zeit ein Buch schreiben, das einige Kapitel enthalten würde, die den Inhalt dieser Broschüren wiedergeben würden, und daneben eine Anzahl von neuen Kapiteln, sodaß das Buch nicht etwa nur eine Sammlung schon früher veröffentlichter Teile sein würde. Ich habe mit Morris\IN{\morris} darüber gesprochen, ob solche Broschüren wohl unter dem Titel ,,Studies in Semantics, Part I``, ,,\ldots Part II`` usw. in unsrer Library of U\editor{nified} S\editor{cience} erscheinen könnten. Er meint, daß keine Bedenken dagegen bestehen, neben kleineren, mehr populären Heften in der Art der früheren Sammlung ,,Einheitswissenschaft`` auch eine Reihe von etwas längeren, mehr technischen Monographien in die Sammlung aufzunehmen. Das erste Heft würde eine allgemeine Einführung bilden, die die Methode der Syntax und der Semantik darstellt, ihre Beziehungen und Unterschiede, und die wichtigsten Begriffe definiert. Das zweite Heft ist schon fast fertig geschrieben. Es behandelt die Frage, ob die (semantische) Deutung logischer Zeichen durch syntaktische Mittel eindeutig gemacht werden kann, in Verbindung mit einer eingehenden Untersuchung des Satzkalküls und seiner möglichen Interpretationen. Ich habe die Ergebnisse dieser Untersuchungen gestern Morris\IN{\morris}, Hempel\IN{\hempel} und Helmer\IN{\helmer} berichtet (2\,\nicefrac{1}{2} Stunden), und alle waren der Meinung, daß es sehr gut wäre, wenn sie bald veröffentlicht würden. Mein einziges Bedenken gegen die Veröffentlichung solcher Hefte im Rahmen unserer Sammlung ist, daß ich nicht sicher bin, ob eine hinreichende Anzahl von Exemplaren verkauft werden würde (abgesehen vom 1.~Heft, das allgemeiner ist). Morris\IN{\morris} meint \neueseite{}\zzz zwar, daß auch von dem mehr technischen zweiten Heft mindestens 500 Ex\ekl{em}pl\ekl{are} abgesetzt\fnA{\original{angesetzt}} werden könnten und daher auch ruhig eine etwas größere Auflage als 500 gedruckt werden könnte. Falls aber Bedenken dagegen bestehen, wäre zu erwägen, ob man sich nicht mit der Herstellung von 500 Ex\ekl{em}pl\ekl{aren} begnügen sollte und in diesem Falle das billigere Verfahren der Mimeographie anwenden sollte. Natürlich nur, wenn es nötig ist, denn ein gedruckter Text sieht natürlich schöner aus. Bitte schreib mir Deine Meinung, eventuell nach Rücksprache mit Stockum.\fnEE{Im Verlag W. P. van Stockum and Zoon, Den Haag, erschien sowohl die Reihe \textit{Library of Unified Science} als auch \textit{The Journal of Unified Science (Erkenntnis)}.} \cutcn{Morris hat jetzt eine sehr umfangreiche Korrespondenz wegen der Harvard Vorträge.\fnEE{Harvard 1939 ???} Ich vermute, Du ebenso mit den Leuten in Europa. Aber von denen werden wohl nur wenige zusagen. Ich habe eben mit Morris eine Reihe von eingetroffenen Zusagen durchgesprochen, besonders in bezug auf die Wahl eines Titels bei denen, die mehrere zur Wahl gestellt hatten. Da viele Absagen eingetroffen sind, vermuten wir jetzt, daß im ganzen wohl nicht mehr als 50 Vorträge auf dem Programm sein werden. Sobald noch mehr Zusagen da sind und wir genauer die Vortragenden und ihre Vortragsthemen überblicken können, müssen wir dann das ganze Kongreßprogramm daraufhin neu arrangieren. Möglicherweise werden dabei größere Änderungen des ursprünglichen Plans nötig werden.} Zilsel\IN{\zilsel} schreibt eben, daß er für seine Frau eine Unterkunft bei einer Freundin gefunden hat. Es ist sehr gut, daß er dadurch etwas unabhängiger sich den Problemen einer Stellungsuche für ihn selbst widmen kann. Beiliegend Bemerkungen zu den MSen. Mit herzlichen Grüßen} \grussformel{Carnap} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846566}{ON 222 (Dsl. RC 102-53-30)}; Briefkopf: gedr. \original{Rudolf Carnap\,/\,Department of Philosophy\,/\,University of Chicago} und \original{Chicago, Illinois}, msl. ergänzt durch \original{18.~April 1939}.}