Carnap an Neurath, Chicago, 18. April 1939 Rudolf Carnap an Otto Neurath, 18. April 1939 April 1939

Lieber Neurath‚

endlich will ich Dir mal auf zahlreiche Briefe, Telegramme und Telefonate antworten.

Ich habe Dein Telegramm wegen FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank erhalten. Inzwischen sind aber die Nachrichten, die Du von KallenPKallen, Horace, 1882–1974, am. Philosoph erhalten hattest, längst überholt. FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank will Dir selbst bald schreiben und seine Lage auseinandersetzen. Für den Fall, daß er das doch nicht sehr bald tut, will ich Dir schon mitteilen, daß augenblicklich Verhandlungen sowohl mit Harvard als mit der Northwestern University in Chicago im Gange sind, und zwar mit den Departments of Physics. Es scheinen hier ganz gute Chancen vorzuliegen, besonders in Harvard. Nur mit dem Komitee in New York scheint die Sache nicht ganz so günstig zu stehen, wie FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank auf Grund früherer Äußerungen von Miss RazovskyPRazovsky, Cecilia, 1891–1968, am. Sozialarbeiterin angenommen hatte. Dem Plan mit der New School hat FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank von Anfang an ziemlich skeptisch gegenüber gestanden. Ich habe den Eindruck, daß er nicht besonders gern dorthin gehen würde, und dann scheint er auch anzunehmen, daß die Committees für diese Schule wohl kaum Geld bewilligen würden.

In der Sache meiner geplanten Untersuchungen zur Semantik habe ich mir folgendes überlegt: Ich habe jetzt schon allerhand Material beisammen und habe auch die Absicht, im nächsten Herbst (den ich frei habe, da ich im Sommer hier unterrichten werde) weiter daran zu arbeiten. Es ist mir aber klar, daß es mehrere Jahre dauern wird, bis ein Buch fertig geschrieben und gedruckt sein würde. Ich habe mir gedacht, ob es nicht möglich ist, schon vorher einiges zu veröffentlichen. Das Interesse an diesen Fragen ist groß und im Ansteigen begriffen, und wenn ich in absehbarer Zeit durch Teilveröffentlichungen die Diskussion über diese Fragen anregen könnte, so würde dies auch mir selbst wesentlich helfen für die Fortsetzung der Arbeit. Der nächstliegende Gedanke wäre natürlich, zunächst Aufsätze für unsere Zeitschrift zu schreiben. Aber das scheint mir doch schwierig, da ich die Dinge, die ich darzulegen habe, kaum in solcher kurzen und für den weiten Kreis der Zeitschriftenleser geeigneten Form darlegen könnte; jedenfalls nicht ohne erhebliche Mehrarbeit. Daher bin ich auf den Gedanken gekommen, ob es nicht möglich wäre, eine Reihe von Broschüren, etwa im Umfange von je 60 bis 100 Seiten zu veröffentlichen. Ich glaube, ich könnte im nächsten Herbst 2 solche Hefte fertigstellen, und dann im Lauf des Jahres 1940 wahrscheinlich wieder 1 oder 2. Vielleicht könnte ich dann in späterer Zeit ein Buch schreiben, das einige Kapitel enthalten würde, die den Inhalt dieser Broschüren wiedergeben würden, und daneben eine Anzahl von neuen Kapiteln, sodaß das Buch nicht etwa nur eine Sammlung schon früher veröffentlichter Teile sein würde. Ich habe mit MorrisPMorris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, verh. mit Trude Morris darüber gesprochen, ob solche Broschüren wohl unter dem Titel „Studies in Semantics, Part I“, „…Part II“ usw. in unsrer Library of Unified Science erscheinen könnten. Er meint, daß keine Bedenken dagegen bestehen, neben kleineren, mehr populären Heften in der Art der früheren Sammlung „Einheitswissenschaft“ auch eine Reihe von etwas längeren, mehr technischen Monographien in die Sammlung aufzunehmen. Das erste Heft würde eine allgemeine Einführung bilden, die die Methode der Syntax und der Semantik darstellt, ihre Beziehungen und Unterschiede, und die wichtigsten Begriffe definiert. Das zweite Heft ist schon fast fertig geschrieben. Es behandelt die Frage, ob die (semantische) Deutung logischer Zeichen durch syntaktische Mittel eindeutig gemacht werden kann, in Verbindung mit einer eingehenden Untersuchung des Satzkalküls und seiner möglichen Interpretationen. Ich habe die Ergebnisse dieser Untersuchungen gestern MorrisPMorris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, verh. mit Trude Morris, HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel und HelmerPHelmer, Olaf, 1910–2011, dt.-am. Mathematiker und Philosoph berichtet (2 12 Stunden), und alle waren der Meinung, daß es sehr gut wäre, wenn sie bald veröffentlicht würden. Mein einziges Bedenken gegen die Veröffentlichung solcher Hefte im Rahmen unserer Sammlung ist, daß ich nicht sicher bin, ob eine hinreichende Anzahl von Exemplaren verkauft werden würde (abgesehen vom 1. Heft, das allgemeiner ist). MorrisPMorris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, verh. mit Trude Morris meint 🕮{}zwar, daß auch von dem mehr technischen zweiten Heft mindestens 500 Exemplare abgesetztaangesetzt werden könnten und daher auch ruhig eine etwas größere Auflage als 500 gedruckt werden könnte. Falls aber Bedenken dagegen bestehen, wäre zu erwägen, ob man sich nicht mit der Herstellung von 500 Exemplaren begnügen sollte und in diesem Falle das billigere Verfahren der Mimeographie anwenden sollte. Natürlich nur, wenn es nötig ist, denn ein gedruckter Text sieht natürlich schöner aus. Bitte schreib mir Deine Meinung, eventuell nach Rücksprache mit Stockum.

ZilselPZilsel, Edgar, 1891–1944, öst.-am. Philosoph und Soziologe schreibt eben, daß er für seine Frau eine Unterkunft bei einer Freundin gefunden hat. Es ist sehr gut, daß er dadurch etwas unabhängiger sich den Problemen einer Stellungsuche für ihn selbst widmen kann.

Beiliegend Bemerkungen zu den MSen.

Mit herzlichen Grüßen

Carnap

Brief, msl., 3 Seiten, ON 222 (Dsl. RC 102-53-30); Briefkopf: gedr. Rudolf Carnap\,/\,Department of Philosophy\,/\,University of Chicago und Chicago, Illinois, msl. ergänzt durch 18. April 1939.


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