Carnap an Neurath, Chicago, 14. Februar 1939 Rudolf Carnap an Otto Neurath, 14. Februar 1939 Februar 1939

Lieber Neurath!

Herzlich willkommen in der besseren Welt! Kommt man sich bei den schauerlichen Zuständen drüben hier vor, als wäre man auf eine (wenigstens vorläufig noch) friedliche Insel geflüchtet? Schade, daß Du wieder nur Visitor’s Visum genommen hast. Ein Dauervisum hätte erstens den Vorteil, daß Du dann künftig überhaupt keine Sorgen mehr wegen der Einreise hättest, und zweitens, daß, wenn Du künftig einmal einwandern willst, die 5 Jahre Wartezeit bis zur Bürgerschaft von jetzt ab datieren würde, auch wenn Du inzwischen in Europa wohnst (falls Du jedes Jahr herkommst, was Du doch eh tust).

Wegen Vortrag will MorrisPMorris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, verh. mit Trude Morris noch bei Social Sciences versuchen, aber nicht viel Chance. Versuch bei unserm Dean war erfolglos, wie vorauszusehen. Ich bin dafür, aus den Royalties Reisekostenzuschuß zu zahlen (übrigens ist Deine Schätzung der Reisekosten zu pessimistisch). Eben höre ich von MorrisPMorris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, verh. mit Trude Morris, daß bezahlter Vortrag an North Western University wahrscheinlich; er schreibt Dir bald.

Von meiner Logistik möchte ich erstens eine Neuauflage der deutschen Ausgabe veröffentlichen‚ und dann eine englische Über­setzung. Fürs zweite käme vielleicht die Sammlung in Holland (hoffentlich in Verbindung mit Amerika) in Betracht; aber meinst Du, für die deutsche Ausgabe auch? Können die Leute in Deutschland Bücher eines holländischen Verlegers kaufen?

Beiliegend einige Bemerkungen zu Deinem Entwurf.

Ich glaube, Du hast recht, daß mein Heft, da es nicht nur eine Übersicht über Bekanntes gibt, sondern auch Neues und nicht leicht Verdauliches gibt, manche Leser abschrecken wird. Aber ich denke, daß es gerade dadurch auch manche anziehen wird, die etwas Neues lernen möchten, auch wenn es ein wenig schwieriger ist. Dein Vorschlag, die technischen Abschnitte herauszunehmen und anderswo zu veröffentlichen, leuchtet mir nicht recht ein. Ich hab sie ja nicht drin, um sie irgendwo zu veröffentlichen, sondern weil ich nicht sah, wie ich den Zusammenhang der Dinge, besonders zwischen Kalkül und Interpretation, klar machen kann, ohne an einigen Beispielen die Anwendung zu zeigen. Mir scheint, ohne dies würde es noch schwerer verständlich werden; die Leser würden mit Recht fragen: wie sieht denn eigentlich ein Kalkül, ein semantisches Regelsystem, eine Ableitung usw. aus? Ich habe aber jetzt die technischen Beispiele in Kleindruck gesetzt; sodaß der Haupttext weniger erschreckend aussieht.

Eben lese ich DeweysPDewey, John, 1859–1952, am. Philosoph MS; werde bald Bemerkungen schicken. Dein Brief kam zu spät; ich konnte nicht mehr Einladung und anderes nach Holland schicken.

Mit herzlichen Grüßen

Dein Carnap

Brief, msl., 1 Seite, ON 222 (Dsl. RC 102-53-41); Briefkopf: gedr. Rudolf Carnap\,/\,Department of Philosophy\,/\,University of Chicago und Chicago, Illinois, msl. ergänzt durch 14. Febr. 1939.


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