\brief{Otto Neurath an Rudolf Carnap und Charles W. Morris, 27. Januar 1939}{Januar 1939} \anrede{Lieber Morris,} \haupttext{ zuerst KONGRESS. Ich finde es sehr erfreulich, daß Ihr nicht starr an den Doppelrednern festhaltet, sondern je nachdem zwei oder drei Hauptredner ansetzt, das gibt auch die Möglichkeit, im letzten Moment noch etwas zu ändern, und eliminiert die Idee des „Koreferenten“. Ich will gern in CHICAGO mit Euch Details besprechen. Ich komme am 17.II. mit der AQUITANIA an -- ich zögerte immer, alles zu fixieren, obgleich ich schon einige Zeit Visum und reservierten Platz habe, weil die allgemeine Lage in Europa sehr bedenklich aussah. Sie ist noch immer trübe, aber es sind deutliche Anzeichen da, daß alles in sozusagen „verkleinertem Maßstab“ vor sich gehen dürfte -- also reise ich. Ich habe ja auch immer das Prinzip vertreten, keinen Kongreß, keine Ausstellung zu verschieben, solange man nicht unittelbar muß. „Das Spiel geht weiter.“ Ich will nach meiner Ankunft die Hauptbesprechungen in New York haben und dann nach meinem Vortrag einige Leute sprechen, die ich bei dieser Gelegenheit kennen lernen dürfte. Es kommen immerhin gegen 500 Menschen, ich spreche mit Lichtbildern MAN AND HIS WORLD im Zyklus HUMAN NATURE AND SOCIAL CHANGE. Ich werde vor allem über das erzählen, was ich in meinem Buch behandle MODERN MAN IN THE MAKING, das eben im Druck ist bei A. Knopf. Für CHICAGO habe ich die ersten Tage im März in Aussicht genommen, etwa 1.--3., am 11. März (wenn es sein müßte, etwas später) will ich mit der VEENDAM zurückfahren. Ich würde sehr gern in Chicago über das gleiche Thema wie in New York mit Lichtbildern sprechen. Es ist allerlei Interessantes in diesem Vortrag. Auch würde ich nicht ungern über Historico-Cosmological Basis of the Sciences sprechen oder etwas Ähnliches. Die Frage hat mich jetzt im Zusammenhang mit meinem Enzyklopädieheft viel beschäftigt und ich glaube, jetzt damit einigermaßen im reinen zu sein. Es ist sehr nett, daß Ihr etwas Geld für die Reise nach Chicago beschaffen wollt. Schließlich kostet das immer etwas über 100 Dollar. Ich finde es sehr gut, daß wir mit den verschiedenen Organisationen gemeinsam tagen. Wenn Ihr meint, daß 3.--9. Sept. besser ist, ich habe nichts dagegen einzuwenden. Es ist alles aufs beste vorbereitet, scheint mir, um eine gute wissenschaftliche Atmosphäre zu schaffen. \neueseite Einige Kleinigkeiten.\fnAmargin{Ksl. am oberen Blattrand \original{\textsp{Kongreß}}.} KELSEN schrieb mir, er wolle zum Kongreß kommen. Ich habe ihn ausdrücklich gebeten zu sprechen. Ich sehe: neben Kaufmann etc. Eventuell, wenn er als Thema sein Kausalitätsproblem wählt, wäre es auch gut \uline{an einem anderen Tage}. BRUNSWIK meinte zwar, er werde wegen des Psychologenkongresses nicht kommen können. Ich würde meinen, man sollte auf ihn einwirken, daß er doch zu uns kommt, und wenn nicht, daß sein Referat mindestens diskutiert wird. N\ae{}ss könnte das übernehmen, der seine Meinung so gut kennt. Ich rate an, etwas mehr FRANZOSEN zu gewinnen.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Muß er selbst machen!}}.} Ich sende anbei die Briefe der Mitglieder des ORGANIZING COMMITTEE. Nun zum Programm: SUNDAY EVENING. Gut. Einverstanden. MONDAY. Ich finde nicht sehr gut, wenn ein Tag denselben Titel führt wie der ganze Kongreß. CARNAP und RUSSELL. Sicher sehr gut. Ich habe nichts gegen Diskussion mit anderen Meinungen, wenn sie nur nicht zu sehr ins Metaphysische abgleiten und wir dann statt einer Diskussion, die unsere gemeinsame Arbeit fördert, wir eine Auseinandersetzung mit „Gegner“ bekommen, denen man sozusagen unseren gemeinsamen Standpunkt erst erläutern muß. Aber nur nicht engherzig! Wäre ein Titel: LOGICAL ANALYSIS OF SCIENCES? Mir fällt auf, daß an diesem Tag gar kein Spezialwissenschafter spricht außer EINSTEIN. TUESDAY. Ich würde es für sehr gut halten, wenn COSMOLOGY im Titel bleibt. Immer redet man zu viel von den einzelnen physikalischen Gesetzen usw., statt auch davon, wie sich gerade in der modernen Auffassung die Einzeleigenschaften als Eigenschaften des „Kosmos“ ergeben, den man sozusagen immer im Auge haben muß. Die Physik ist eine Hilfswissenschaft der Kosmologie, oder jene Wissenschaft, die aussagt, was man sagen kann, ohne auf gewisse Wandlungen Rücksicht zu nehmen usw. usw. WEDNESDAY. Sehr einverstanden mit BIOLOGY AND PSYCHOLOGY. HULL vielleicht doch besser hier, wegen Beziehung zu Woodger. THURSDAY. Spreche sehr gern zusammen mit Dewey, mit dem ich jetzt so erfreuliche Korrespondenz hatte. Morris dazu -- sehr gut. Es hätte etwas für sich, wenn Morris WEDNESDAY redete, weil niemand von unserem engeren Kreise außer BRUNSWIK, dessen Kommen unsicher an diesem Tag [ist], zu Worte kommt. CARNAP-FRANK-MORRIS-NEURATH wäre sozusagen die „alte Garde“, seit 1934 zusammen. \hbox{TUES}DAY haben wir Frank und Reichenbach (der ja seit einiger Zeit etwas kritisch gewissen unserer Auffassungen gegenübersteht). FRIDAY. Hier wäre KELSEN mit seinen neuen Ideen sehr am Platz. Ich bin nicht sehr dafür, eine ganze Session aufzubauen auf Rednern, die recht weit ab von uns sind. MANNHEIM ist sicher ein wertvoller Denker, aber er bringt alles so fremdartig für uns vor. SARTON ist sozusagen Spezialist in Wissenschaftsgeschichte, das ist was anderes. Vielleicht HISTORY AND SOCIOLOGY OF SCIENCE AND ARTS, dann könnte Schapiro reden, der absolut physikalistisch eingestellt ist. Wenn KELSEN über die Geschichte des Kausalbegriffs spricht und zeigt, wie die magische Vergeltung in der Kausalität wiedergekehrt, \uline{ist er uns besonders nahe}, wenn er über Norm und Sein spricht, wozu ihn der THURSDAY verlockt, spricht er sozusagen gegen uns, und das kann ja sein Freund und Schüler Kaufmann besorgen, der sich ja begnügt, die Überschätzung der inneren Erfahrung zu propagieren und die Norm-Seingeschichte fallen läßt. Wo bleibt ANDRADE, GÖDEL? PROBABILITY sollte etwas reicher besetzt sein. Für EMPIRICISM interessiert sich jetzt besonders JØRGENSEN, wie ich höre. PROCEDURES OF EMPIRICAL SCIENCE, sollte da nicht je\neueseite{} mand der uns näher steht \uline{auch} das Wort führen. SATURDAY. Warum Gödel nicht hier, sondern am Tag vorher? Aber nicht belangreich, ob an diesem oder an jenem Tage. Ich bin im ganzen einverstanden, zumal sich ja vieles noch ändert, wenn wir im einzelnen an die Zusammenstellung gehen. Ich glaube, Ihr werdet das alles trefflich machen, ich möchte nur den Grundgedanken betonen, daß die Kongresse das, was als unsere permanente eigene Arbeit an der UNIFIED SCIENCE aufgefaßt wird\fnA{\original{werden}}, \uline{deutlich hervortreten lassen}, ohne daß wir abweichenden Meinungen die Rede absperren. Ich weiß nicht, wie sehr Ihr diesen Standpunkt teilt. Nun zur PRESS. Wir müssen die Fortsetzung der Enzyklopädie, wie sie ja anregten, möglichst systematisch besprechen. Ich glaube, daß wir vielleicht so verfahren könnten -- ich knüpfe an eine Bemerkung von ihnen an, daß wir der sozusagen \uline{eigenen} Synthese genügend Raum schenken sollen. Nun scheint mir eine Vierteilung nicht sehr wünschenswert. Dann schon lieber so: I. FOUNDATIONS. Wie bisher. II. ANALYSIS (um irgend ein Wort zu verwenden) bringt die Verschiedenartigkeit der Meinungen, \uline{vielleicht etwas mehr Bände}, als ich ursprünglich vorschlug. Es gibt viel feine Dinge, die man allgemein verständlich von verschiedenen Seiten her beleuchten kann.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{nicht klar}}.} Ich denke an Probleme der Genetics, Zellphysik usw. usw., also von prinzipieller Bedeutung, wenn auch etwas Details. III. SYNTHESIS\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Wie ist das gemeint?}}.} (um irgend ein Wort zu verwenden) vielleicht \uline{weniger}, als ich ursprünglich für Gruppe III vorschlug, und etwas mehr, als sie dachten als Abschluß. So eine dreigliederige Gruppierung scheint mir besser, weil allgemein verständlicher. Ich hoffe, daß die FOUNDATIONS in den späteren Auflagen harmonischer aufeinander abgestimmt werden können. Diese Dreigliederung hat den Vorteil, daß wir für II nicht so begrenzt sind in der Auswahl der Mitarbeiter, da können wir jemanden „abweichende Meinung“ vorbringen lassen, der von Rang ist. Ich sehe zwar, wie rasch wir uns durchsetzen, und daß immer mehr Menschen unsere Anschauungen schon als fast selbstverständlich betrachten, die vor 10 Jahren noch sehr verwundert waren, ja vor 5 Jahren. Aber die Zahl derer ist doch nicht gar so groß, die nun im Detail zu einer Ineinanderarbeitung bereit und an ihr interessiert sind. Ich weiß nicht, wie Ihr das anseht. Mir kam es jetzt zum Bewußtsein, als ein Ersatz für einzelne Mitarbeiter zu suchen war. Nun zur Frage der ENZYKLOPÄDIE-FOUNDATIONS. 1. Beitrag von TINBERGEN würde viel weniger eine Detailsache sein als WOODGER. Er würde eine wichtige Disziplin behandeln, von der viele mehr erwarten als sie, wie ich meine, leisten kann. Da aber Tinbergen gerade die empiristische Seite betont und den Zusammenhang mit meinem Heft herstellt, ists ganz in der Ordnung, wenn er erzählt, wie man im Bereich der Sozialwissenschaften, speziell der Nationalökonomie, Mathematik anwendet. Durch WALRAS, PARETO usw. usw., die modernen Konjunkturforscher usw., Ökonometristen usw. ist soviel auf diesem Gebiet geleistet worden. Menger hält auch sehr viel davon. Ich bitte nochmals um \uline{KABEL}, damit Tinbergen gleich mit der Arbeit beginnen kann. Die Arbeit wird bestimmt unserer Gesamtauffassung nicht zuwider laufen, daß er manches anders auffaßt wie ich, kann kein Anlaß für mich sein, dies nicht zu be\neueseite{} fürworten. CARNAP hat noch gewisses Zögern. 2. Geschichte der Logik. Ich habe von ŁUKASIEWICZ, der seinerzeit zusagte, keine Entschließung bekommen können. Ich habe ihm nun nach verschiedenen Mahnungen ein ULTIMATUM mit 1.II. gestellt. Er hätte längst positiv geantwortet, wenn er wollte. Er hat ja immer starke Hemmungen, aber es scheint, daß er immer mehr sich mit den katholischen und verwandten Logikern anfreundet. Es ist schwer, einen Historiker der Logik als Ersatz zu finden. SCHOLZ ist ständig irritiert durch die ERKENNTNIS, die es ihm so schwer mache, unseren Standpunkt auch nur in Schutz zu nehmen. Er hat in seinen letzten Arbeiten immer mit Ironie von uns gesprochen und nun ganz explizit Metaphysik verkündigt. Man hat sich schon oft über die bisherige enge Beziehung von uns zu Scholz gewundert. Ich hatte nichts dagegen, im Gegenteil, habe immer gefördert, daß er bei uns sich äußert. Aber er betont jetzt immer stärker die Gemeinschaft mit Łukasiewicz aus einer metaphysischen Grundhaltung heraus -- so scheint mir wenigstens. Ich hätte natürlich nichts dagegen, daß er in den späteren Bänden mitarbeitet, aber nur, um einen Titel zu füllen, sich jetzt umsehen, wo man einen Historiker der Logik findet, halte ich nicht für gut. Statt des Themas GESCHICHTE DER LOGIK möchte ich vorschlagen TINBERGEN Mathematisierung der Nationalökonomie oder dgl. 3. Geschichte der Wissenschaften. Metzger-Bruhl schrieb mir eben, daß ENRIQUES in Paris eingetroffen ist. Ich habe angefragt, ob für dauernd und ob er nun wieder sein Heft übernehmen wolle. Dieses Heft möchte ich viel eher beibehalten wissen, obgleich es auch nicht unbedingt nötig ist, weil ja SANTILLANA und ZILSEL zusammen dazu Beitrag liefern. Nur weiß ich noch nicht, was als Ersatz vorschlagen. Gut schiene mir: 4. Eine Darstellung der Kunstbetrachtung auf physikalistischer Basis durch SCHAPIRO, wie ich schon schrieb. Das paßt sehr gut in das ganze Gefüge hinein. Es wäre mir wichtig, Eure Meinung zu hören. Jetzt wird man hoffentlich bald von Jørgensen einiges hören und die Bibliographie seiner Arbeit anpassen können. Ich habe hier eine grobe Zusammenstellung der Autoren gemacht, die MANNOURY und ich selbst gemeinsam für charakteristische im weitesten Sinne für unsere Bestrebungen ansehen. Es ist ganz was Nettes herausgekommen. Und ich glaube, es kann eine hübsche Sache werden, besonders, wenn die jungen Leute von MORRIS mithelfen. Ich betone nochmals, daß, wenn wir eine Lücke haben, man an Hempel denken sollte. Es wäre nur die Frage, was er übernehmen soll. Ich schrieb schon einmal, daß im ADVISORY COMMITTEE jetzt noch HEMPEL und SARTON fehlen. Hempel, wie ich schrieb, war seit langem aufgefordert und nur durch ein Versehen nicht eingefügt worden, Sarton hat Einladung angenommen. Wenn SARTON Geschichte der Wissenschaften macht, ists sicher gut. Vielleicht kann er sogar ein wenig auf unsere Bemühungen Bezug nehmen. Er scheint mir empiristisch zu sein, so daß das doch keine Schwierigkeit macht. Die Schreiben gehen zurück. Mit Schreiben an SARTON einverstanden. Bitte wegen TERMIN meines Kommens eventuell mit MISS HELEN B. RUSSELL (Russell Sage Foundation), 130 East 22\textsuperscript{nd} Str., NEW YORK CITY, korrespondieren, der ich schrieb, ich wolle erste Märztage in CHICAGO sein. Gram. 5 70 60. Bitte, wenn Ihr meine Tage in CHICAGO festgelegt habt, mit Mr ROLLINS, Compton's Pictured Encyclopedia, telephonieren, damit Ihr mit ihm abmacht, wenn ich dort sein kann. Vielleicht zwei Zusammenkünfte. Gute Grüße. Auf Wiedersehn} \grussformel{\editor{Otto Neurath}} \ebericht{Brief, Dsl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846594}{RC 102-53-43}; Briefkopf: msl. \original{27.~Januar 1939} und \original{Kopie geht an Carnap}; ohne Signatur.}