\brief[Neurath an Carnap, Den Haag, 11.~Januar 1939]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 11. Januar 1939}{Januar 1939} \anrede{Lieber Carnap,} \haupttext{Ich fahre ca. 9.\,II ab, spreche am 23.\,II in New York, habe dann noch allerlei Verhandlungen und möchte womöglich Anfang März in Chicago sein. Schade, daß es so kostspielig ist. Könnt Ihr nicht einen oder zwei honorierte Vorträge einrichten? Du wolltest mir eine Einladung senden. Bis jetzt habe ich Sie nicht, bitte schick Sie postwendend ab.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{(zu spät) (ich habe ihn gefragt, was drin stehen soll, und für welchen Zweck, aber keine Antwort bekommen)}}.} Betone, daß es Deiner Meinung nach wichtig ist, daß ich Besprechungen habe, insbesondere auch als Editor in Chief der Enzyklopädie, daß Besprechungen mit anderen organisiert werden und dgl. Es ist immer gut, wenn man dem Immigration Officer klar machen kann, was man treibt. Da ich jetzt einen ganz normalen deutschen Paß für 5 Jahre als Ersatz meines österr\ekl{eichischen} Passes bekommen habe, habe ich wie immer mein Visum ohne weiters bekommen.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{(also keine Einladung nötig!)}}.} Ich will in New York mit Freunden überlegen, wie mans machen kann, damit unser ganzes Büro jederzeit hinüberkann. Das ist nicht einfach einzurichten. Ich möchte nicht eine Vorzugsposition einnehmen. ,,Der Kapitän \ldots`` Hier haben wir jetzt viel zu tun, es lebt sich still und ruhig dahin, wenn nur das Zeitalter nicht so maßlos trübe wäre. Dr. Oswald Richter\IN{\richteroswald}, den Du wohl auch kanntest, ist im Konzentrationslager an Herzschwäche gestorben. Ich bin um viele in Sorge. Am selben Tag kam die Nachricht, daß der Sohn des verstorbenen Physikers Ehrenfest\IN{\ehrenfestpaul} durch eine Lawine beim Ski-Fahren getötet wurde. \cutcn{FORUM Beitrag schon gedruckt. Bekommst Abdrücke, habe sie selbst noch nicht. Besprechungen für ERKENNTNIS kommen ein wenig später. Wir haben so viel Cambridge Material, daß wir noch Heft 1 von Bd. VIII damit füllen. Man muß in Hinkunft die Länge der Kongreßbeiträge strenger begrenzen. An sich bekommt man ja so allerlei gute Dinge, die sonst nicht kämen, z.\,B. Bohrs Auftreten in Kopenhagen. Ich habe SOCIAL SCIENCES ziemlich beisammen,\fnAmargin{Hsl. und ksl. \original{\textsp{für Enc.)}}.} möchte noch einiges in New Yorker Bibliotheken einsehen. Glaube, daß es sehr gut ist, wenn Tinbergen, wie ich schrieb, über die Mathematisierung der Nationalökonomie schreibt. Er ist durchaus empiristisch eingestellt. Ich spreche vor allem über das Thema THE DOMAIN OF THE SOCIAL SCIENCES. Weiß nicht, ob das ein guter Titel ist. Hoffentlich hat sich Nagel wieder beruhigt. Er war durch den Vorschlag, den Titel im Sinne der Anregung von Morris anzupassen, ganz irritiert. Vielleicht ist ,,Problems`` was Böses im Amerikanischen. ,,Principles`` ist natürlich auch recht. Ich schrieb ja schon darüber. \neueseite{}} Schade, daß Nagel\IN{\nagel} die Gelegenheit, über die Enzyklopädie zu schreiben,\fnEE{Nagel, ,,[Review of:] \textit{International Encyclopedia of Unified Science}``.} nicht anders ausgenutzt hat. Es ist irgendwie mit der Art Grellings\IN{\grelling} verwandt, der auch den Dingen keinen rechten Humor abgewinnen kann, denen er nahe steht. Man kann ja sehr bedauern, daß Bohr\IN{\bohr} und Russell\IN{\russellkurz} nicht mehr geschrieben haben, aber eigentlich soll man doch, besonders, wenn man selbst mitarbeitet, sagen, wie nett es ist, daß Russell\IN{\russellkurz} unsere Sache begrüßt und daß Bohr\IN{\bohr} im Lauf der Zeit uns immer näher gekommen ist. Das ist doch von symptomatischer Bedeutung. Schade, daß alle neuen Gedanken, die ich in meinem Artikel zum besten gab, dem Rezensenten ,,familiär`` sind, oder daß er mindestens meinte, sie seien es. Dadurch erfährt der Leser nicht, was ich eigentlich behaupte, nur daß ichs unzulänglich tu. Na ja. Tus zum übrigen. Was man durch Enzyklopädie und anderes leistet, wird man ja nach einiger Zeit deutlicher sehen als jetzt. Wenn es auch nur etwas Bescheidenes ist -- ich habe den Eindruck, daß immer mehr Menschen die Enzyklopädie als etwas empfinden, um das man sich gruppieren kann. Ich sprach hier in einem progressiven Klub über ENTZAUBERUNG DURCH LOGISCHEN EMPIRISMUS. Der Vorsitzende hatte die Enzyklopädie neben sich liegen, deren Abonnent er ist (ich kannte ihn vorher nicht), und mehrere der Anwesenden sagten, wie nahe ihnen das alles ist, was wir sagen. Ein bekannter Kritiker berichtete mir, wie sehr ihn die Aufsätze von Schlick\IN{\schlick} berührt hätten. Ich hatte gehofft, daß Nagel\IN{\nagel} ein wenig diese Fragen berühren würde. Die Bemerkung über DEWEY\IN{\dewey} führt, glaube ich, irre. Dewey\IN{\dewey} ist nämlich einig mit uns, daß man nur von Dingen redet, die ein ,,Wo`` und ,,Wann`` haben (Physikalismus), er hat nur Bedenken gegen Zurückführung auf PHYSIK im engsten Sinne, wenn man z.\,B. soziale Probleme diskutiert. Wir haben doch gegen molare Behandlung z.\,B. in der Psychologie nichts einzuwenden und meinen nur, daß die Gebilde solche sind, wie sie auch in der Physik auftreten usw. usw., und daß die Sätze von der selben Art sind. Aber, das ist mal, wie es ist. \cutcn{GRUEN's Bemerkung kenne ich nicht, bitte schick sie mir. Geht gleich an Dich zurück. Ich bin dafür, daß man den ganzen Text auf der Umschlagseite jetzt wegläßt (Änderung eines Satzes wäre komisch) und statt dessen eine kurze Einleitung hinsetzt über die Struktur der Enzyklopädie. Man kann ja jetzt schon auf die bereits erschienenen Hefte verweisen, vielleicht Zitate aus Heft 1 bringen, aus jedem der Artikel eins oder dgl. m\ekl{ehr}. ENRIQUES ist nicht mehr Mitherausgeber der SCIENTIA. So wirkt sich seine jüdische Abstammung aus. Santillana war als Kompromiß eingefügt worden -- Du erinnerst Dich -- und er weist in seinem Entwurf gar nicht auf ENRIQUES hin und dessen empirischen Rationalismus. Was hatte Frank für Mühe mit all dem in Paris und mit Gonseth. Aber Gonseth grollt weiter. Ich habe Deine engl\ekl{ische} Logische Syntax noch nicht bekommen,\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{wozu?}}.} auch nicht etwa für unsere Bibliothek. Wer soll sie denn in der ERKENNTNIS besprechen?\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Ist denn Rezensionsexemplar vorhanden?}}.} Van Dantzig fragte mich, ob er sie dort besprechen könne. Wir werden in Hinkunft (bis der Kongreß zu Ende gedruckt ist) alle Büchertitel der eingelaufenen Bücher abdrucken. \neueseite Frank hatte Lenzens Mskpt sehr lange in Händen, leider hat er sich nicht entschlossen, Bemerkungen dazu zu machen, trotz Bittens. Von Zilsel hörte ich nichts, bitte schick mir postwendend seine Adresse. An Łukasiewicz habe ich jetzt ein Ultimatum geschickt. Ich bin nicht dafür, einen Autorenersatz zu suchen, lieber Themenersatz. TINBERGEN ist, wie ich schrieb, sehr wichtig. Ich finde, daß die mathematische Nationalök\editor{onomie} nur ein sehr eingeengtes Wirkungsgebiet hat, andererseits wird gerade sie viel diskutiert und TINBERGEN ist ein Meister auf diesem Gebiet und doch wieder ganz empiristisch und verständig genug, die Tragweite nicht zu überspannen. Sein Heft, zumal er auch noch einige andere Mathematisierungen in den Sozialwissenschaften berühren will, würde meins ausgezeichnet ergänzen. Ich habe WOODGER etwas gedrängt, damit wir überhaupt von ihm ein Mskpt bekommen. Er ist ein Zauderer. Ich fürchte, es wird noch zwischen Lipp' und Kelchesrand was passieren. WAISMANN schrieb ich, er müsse mir das Mskpt senden. Er hat bis jetzt eingewendet, er benötige es für den engl\editor{ischen} Text usw. -- er muß doch einen Durchschlag haben, denke ich. Kegan Paul hat als Bedingung gestellt, daß wir nicht vor dem engl\editor{ischen} erscheinen. Das mag gelten. Aber W\editor{aismann} will ich erst dann den Vertrag senden, bis ich das Mskpt habe, ganz entsprechend Deinem Brief. Ich habe MORRIS geschrieben, mit der PRESS zu sprechen, wie sie sich dazu stellte, unsere LIBRARY OF UNIFIED SCIENCE\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Titel wird immer zu Verwechslung mit Enzyklopädie führen!}}.} -- so sollte der Titel heißen, unter dem dann einerseits Pamphlete wie bisher und Bücher\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Getrennt in 2 Sammlungen!}}.} (eben ist das Mskpt von Mises gekommen) andererseits erscheinen können -- zu vertreiben oder mit van Stockum herauszugeben oder dgl. KELSEN will sein neues Buch bei uns bringen, was ich sehr begrüße, es ist interessant, behandelt Vergeltungsprinzip, Kausalität, Magie usw. Ich meine, Du solltest die Gelegenheit, daß Springer die Sammlung nicht weiter erscheinen lassen will, benutzen, um mit gutem Grund den Vertrag mit ihm zu lösen. FRANK ist durchaus dafür, daß die alte Sammlung in unsere hineinkommt, sobald es geht. So haben wir Mises übernommen, der seinen Vertrag mit Springer friedlich gelöst hat. Wie viel besser ists, wenn Deine Logistik im Kreis der anderen Bücher unserer Gruppe erscheint, statt bei Springer, der sich doch jetzt völlig umstellt. Auch ists nicht gut, wenn ein Buch so ganz außerhalb unserer Einflußsphäre erscheint. Ich hoffe, Du löst den Vertrag mit Springer. Die Bedingungen von van Stockum \& Zoon sind ja ungefähr die gleichen, 10\,\% usw.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Wie können Leute in \unsicher{Deutschland} das kaufen?}}}} Schreib bald. Die Zeiten sind grauslich. Wenn Du das Pinguin-Buch von Londonderry\IN{\londonderry} liest GERMANY AND OURSELVES,\fnEE{Londonderry, \textit{Ourselves and Germany}, erschienen bei Penguin Books.} verstehst Du vieles besser. Ja, und da arbeitet man im Detail dies und das, schreibt sogar Bücher über das Zeitalter \ldots\ Habe eben die Korrekturbogen von meinem gelesen, das in New York erscheint.\fnEE{Neurath, \textit{Modern Man in the Making}.}\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Was ist das??}}.} Na ja. So ist das Leben. Ich habe dort so viele Möglichkeiten der Kriegskombination erwähnt, daß ich die Bilder nicht ändern mußte trotz der Ereignisse \ldots\ Und was hat man schon davon. Skeptischer Optimismus ist das einzige, was bleibt, und Vitaler Stoizismus. Meinst Du nicht? Mit Wünschen für Dich und Ina\IN{\ina} herzlichst grüßend } \grussformel{Dein\\ON} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846596}{RC 102-53-44 (Dsl. ON 222)}; Briefkopf: gedr. \original{International Institute for the Unity of Science} mit näheren Angaben, msl. \original{11.~Jan. 1939}.}