\brief[Carnap an Neurath, Carmel-by-the-Sea/Kalifornien, 3.~Oktober 1938]% {Rudolf Carnap an Otto Neurath, 3. Oktober 1938}{Oktober 1938} \anrede{Lieber Neurath,} \haupttext{ endlich will ich Dir einmal auf Deine zahlreichen Briefe antworten. Die Spannungen, Erregungen, Hoffnungen und Enttäuschungen der letzten Wochen waren schrecklich; wie erst für Euch in Europa! Das Ergebnis ist niederdrückend;\fnEE{Gemeint ist das Ende September geschlossene Münchener Abkommen, mit dem (ohne Mitsprache der Tschechoslowakei) das Sudetenland an Deutschland abgetreten wurde.} was soll nun aus Europa werden? Ist dieser Zustand mit dem Ausblick auf einen späteren, ungünstigen Krieg nicht viel schlimmer als ein jetziger Krieg mit günstigen Aussichten gewesen wäre? Oder meinst Du, Frieden sei auf jeden Fall dem Krieg vorzuziehen? \cutcn{\uline{Zur Encyclopedie.} Mit \uline{meinem Heft} bin ich fertig; meist im Liegen geschrieben, weil ich wieder Rückenknax habe. Ina konnte aber in den letzten Wochen nicht tippen. Ich denke, wir können es Mitte Oktober abschicken. -- Brunswik erzählte mir, daß Du ihn aufgefordert hast, die Enc\ekl{clopedia} zu rezensieren, und das wird er wahrscheinlich auch tun. Aber bekommt nicht jeder der Autoren ein \uline{Freiexemplar} der ersten beiden Bände? Ich meine, das wäre nicht mehr als billig, wenn kein Honorar gegeben wird; ich erinnere mich aber nicht mehr, was ausgemacht war. -- Beiliegend Kopie des Briefes an \uline{Woodger}. -- \uline{Zilsel}\IN{\zilsel}, Kap. I, habe ich an Morris\IN{\morris} weitergeschickt. Ich habe keine Bemerkungen dazu, es scheint mir gut so. Die Betonung der soziologischen Wurzeln der Verbindung von Empirie und Mathematik ist interessant. -- Wolltest Du nicht die Vorschläge über \uline{Anführungszeichen} in vereinfachter Form an die Autoren verschicken? -- Zu \uline{Santillanas} Plan. Inbezug auf die historischen Kapitel I--III müßte er sich wohl hauptsächlich mit Zilsel einigen. Inbezug auf IV und V habe ich leise Bedenken, möchte sie aber nicht äußern, bevor ich deutlicher sehe, was er meint. Könntest Du ihn vielleicht auffordern, einen etwas ausführlicheren Plan zu schreiben, aus dem man sieht, welche Thesen er vertreten will; die jetzigen Formulierungen sind schwer verständlich. \uline{Kongresse}. Siehe Nr. 37, 26. Juli: Antrag \uline{Mannoury} über Esperanto habe ich noch nicht bekommen. Jørgensen als Vorsitzender im Symbolikkomitee\fnA{\original{Symbolikkommittee}} ist sehr gut. -- Man klagt, daß beim Kongreß in Cambridge wieder die Sitzungen viel zu lang ausgedehnt wurden (wie ja auch schon oft bei den früheren Kongressen, aber diesmal vielleicht noch schlimmer). Ich bin entschieden dafür, daß das beim Kongreß Harvard vermieden wird. Also: die Sitzungszeiten kürzer; trotzdem aber in jeder Sitzung mehr Zeit für Diskussionen. Daher \neueseite{}\zzz weniger Vorträge. Morris’ Plan scheint mir gut, auch von diesem Gesichtspunkt aus. Die Anzahl der Parallelsitzungen an den beiden letzten Tagen wird sich nach der Anzahl der angemeldeten Vorträge richten. \uline{Sammlung Einheitswissenschaft.} Ich bin sehr damit einverstanden, daß die Schlicksammlung so fortgesetzt wird. Ich halte es aber für besser, 2 verschiedene Sammlungen zu machen, nicht große Bücher und Broschüren in einer zu mischen. Wie steht es denn mit Waismann’s Buch? Sollen wir versuchen, außerdem noch eine Büchersammlung in englischer Sprache herauszubringen, vielleicht in Chicago? Ich glaube, es ist besser, deutsche und englische Bücher in getrennten Sammlungen; besonders da doch manchmal neben einem deutschen Buch auch eine englische Übersetzung herausgegeben werden sollte. Ich würde auch an eine englische Übersetzung von Waismanns Mathematikbuch, Tarskis math\editor{ematische} Logik, Reichenbach und andere denken. \uline{Erkenntnis.} Gib auf dem Umschlag im letzten Heft dieses Bandes unbedingt noch andere Adressen an! Entweder Hazebroek oder besser schon alle Mitglieder der künftigen Redaktion. Von Band VIII ab unbedingt Adressen \uline{aller} Herausgeber angeben! Dann kann ein Autor wählen, auch innerhalb einer Abteilung, z.\,B. entweder das europäische oder amerikanische Mitglied der betreffenden Abteilung.} Ich habe \uline{Zilsel}\IN{\zilsel} ein Affidavit geschickt, habe aber noch keine Nachricht, ob es genügt. Für \uline{Rand}\IN{\rand} und \uline{Hertz}\IN{\hertzpaul} ist kaum etwas zu machen; da ihr Gesuch für einen Studentenaustausch zu spät kam, weiß ich nicht, was für ein \glqq Stipendium\grqq\ sie bekommen könnte. Und Maria Feigl\IN{\kasper}, die sie zuletzt in Wien gesehen hat, hält es für ausgeschlossen, daß Rand\IN{\rand} hier in einem praktischen Beruf Erfolg haben würde. Ich weiß nichts von einem Affidavit, das N\ae{}ss\IN{\naess} ihr versprochen hat. Für Hertz\IN{\hertzpaul} ist die Sache auch nicht viel besser. Wenn ich nicht einmal Hempel\IN{\hempel} zu einer Stelle verhelfen konnte, wie soll ich es dann für Hertz\IN{\hertzpaul} können! Ich habe auch noch nichts für Zilsel\IN{\zilsel} gefunden. Dabei ist Zilsel\IN{\zilsel} doch bei weitem der Anpassungsfähigere und Weltgewandtere von den beiden. Hertzens\IN{\hertzpaul}\IN{\hertzpaulfrau} haben, glaube ich, wohlhabende Verwandte in New York, sind also nicht ganz so schlecht dran wie die meisten andern, die ankommen. Ich sehe auch nicht recht, wie ich es zustandebringen soll, Dir für Deine Mitarbeiter die Sicherheit für Affidavits zu verschaffen für eine unbegrenzte Zukunft. Es ist uns nur in ganz wenigen Fällen gelungen, andere Leute dazu zu bringen, Affidavits zu geben; die meisten haben wir selber gegeben. Zudem, wenn man einen Menschen unter Hochdruck dazu bringen könnte, ein Affidavit zu unterschreiben, ist es noch einmal viel schwieriger, von ihm ein Versprechen für die Zukunft zu bekommen; noch dazu, wo Deine Schützlinge nicht einmal Juden sind; bei Juden kann man wenigstens auf die erprobte Hilfsbereitschaft der jüdischen Organisationen hinweisen, die dem Affidavitgeber helfen, seinen Verpflichtungen nach\ekl{zu}kommen, wenn ein Notfall eintritt. Ich selber habe derartig viele Affidavits gegeben, daß ich es für unwahrscheinlich halte, daß noch mehr von mir angenommen würden. Ich hatte es für Mieze\IN{\reidemeistermarie} angetragen, weil sie als einzelne Frau ja nicht so viel finanzielle Bürgschaft hinter \neueseite{}\zzz sich haben muß wie eine ganze Familie. -- Bitte schicke mir Vorlage des Textes für Einladungen an Dich genau so wie Du ihn wünscht. Ich habe Dir seinerzeit einen Text mit der Bitte um Korrekturen geschickt, habe ihn nie zurückerhalten. -- Ich lege einen Scheck über \$~25,00 bei. Bitte gib Neider\IN{\neider}, wenn er wieder zu Dir kommt, den Gegenwert dafür als Anzahlung auf eine spätere Verrechnung. Ich liege nun schon (mit Unterbrechungen) die achte Woche. Es ist ein Jammer. Springer\IN{\springerjulius} schreibt, daß er unter den gegenwärtigen Umständen eine Weiterführung der Schlicksammlung\IN{\schlick}\fnEE{Der letzte Band in der von Frank und Schlick herausgegebenen Reihe \textit{Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung} (Kraft,\textit{ Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre}) war 1937 erschienen.} für unmöglich hält. Er will die Neuauflage meiner \glqq Logistik\grqq\ als selbständiges Buch, nicht mehr im Rahmen der Sammlung herausbringen. %\fnSE{Siehe oben, Anm. \refcn{1938-01-27-Carnap-an-Neurath-SymbolischeLogik}.} -- Wir bleiben mit Sicherheit hier bis Ende Oktober, vielleicht noch länger. Franks\IN{\frankphilipp}\IN{\frankphilippfrau} kommen erst Mitte November in diese Gegend. Er soll wohl heute in New York landen. Mit herzlichen Grüßen an Euch beide,} \grussformel{Carnap}%\Apagebreak \ebericht{Brif, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846625}{ON 221 (Dsl. RC 102-54-07)}; Briefkopf: gedr. \original{Rudolf Carnap\,/\,Department of Philosophy, University of Chicago} und \original{Chicago, Illinois}, msl. \original{Carmel, Cal.} und \original{Carmel, October 3, 1938}.}