\brief[Neurath an Carnap, \ekll{Den Haag,} 10.~September 1938]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 10. September 1938}{September 1938} \anrede{Lieber Carnap,} \haupttext{ wenn auch die Arbeit aufgehäuft liegt und wir vieles eilig erledigen müssen, so soll doch alles Persönliche einmal zusammenhängend besprochen werden. Zunächst Dir und Ina\IN{\ina} vielen Dank für alle Bemühungen, die bisherigen und die künftigen. Es wäre unter den gegebenen Verhältnissen sehr zweckmäßig, wenn man eine Möglichkeit hätte, unsere Institutsarbeit anderswo einzurichten, etwa so, daß man teilweise den Betrieb hier aufrechterhält, teilweise anderswo eine Nebenstelle schafft. Aber dieser Plan ist nicht einfach zu realisieren, da er 4 Personen nebst zwei Familien umfassen müßte. Vor einigen Jahren, als wir finanziell sehr schlecht standen, wurde die Frage erwogen, daß wir einzelweise uns verpflanzen -- das bedeutet praktisch das Ende einer bald 15jährigen erfolgreichen Zusammenarbeit. Nun glaubte ich, man könnte das Immigrationsrecht \glqq auf Eis legen\grqq\ -- erfuhr aber im letzten Augenblick, daß man innerhalb dreier Monate davon Gebrauch machen müsse. Daß ich \uline{allein} mir ein Recht sichere, daß die anderen, die im Vertrauen auf gemeinsame Arbeit mitgekommen sind (das Angebot der neuen Verwaltung war ja gewesen, alle Mitarbeiter zu übernehmen!), nicht haben, würde mir widerstreben, ganz abgesehen, daß das böses Blut machen würde. Damit man also als Institut etwas machen könnte, wäre es nötig, daß wir alle zusammen hinüberkommen und, falls wir nichts Endgiltiges finden, wieder zurückkommen und jedes Jahr hinüberkommen, um das Immigrationsrecht nicht zu verlieren -- das ist etwas, das man nur im Notfall tut. Ich wäre äußerst dankbar, wenn ich nur die Garantie hätte, daß alle Affidavits bekommen können (alles reine Arier) -- ich habe ein gutes Affidavit, MR\IN{\reidemeistermarie} kann es auch haben, bleiben die beiden Familien Scheer\IN{\scheer} und Arntz\IN{\arntz}, über die Ihr alle Daten habt. Ich weiß, daß solche \glqq Eventual-Sachen\grqq\ in der Welt sehr unbeliebt sind. Aber was tun! Daß ich allein irgendwo unterkomme, nehme ich an, aber das fasse ich erst ins Auge, wenn\fnA{\original{bis}} alles zerbricht -- was ja sehr rasch sein kann. Hier kann man auch in Krisenzeiten relativ gut durchkommen (unser Büro zahlt nur ca. 18 Dollar monatlich Miete z.\,B. mit seinen 8 Räumen, Balkon usw., natürlich alles klein), in USA ist das kaum möglich. Wir haben jetzt eine Ausstellung über PUB\-LIC HEALTH für das Sozialministerium gemacht,\fnEE{In unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Ausstellung in USA steht wohl Neurath/Kleinschmidt, \textit{Health Education by Isotype}.} eben eine Rembrandt\-ausstellung (sozialer Hintergrund usw.) mit ca. zwei Dutzend Tafeln und Apparaten (die mit klarer Stimme antworten, ob man gestellte kunsthistorische Fragen, Korrelation von Gebäuden, Schiffen und Bildern richtig beantwortet hat),\fnEE{Zu der Ausstellung \textit{\labelcn{1938-09-10-Neurath-an-Carnap-Rembrandt}Rondom Rembrandt} (\textit{Rund um Rembrandt}) in den Niederlanden 1937/38 siehe Kraeutler, \textit{Otto Neurath. Museum and Exhibition Work}, Kap.~4.} es ist weiteres dieser Art in Aussicht, wir arbeiten für USA (mittelbar für NEW YORK CITY), Compton usw. Dazu kommt der recht umfangreiche Betrieb für die Erkenntnis (JOURNAL OF UNIFIED SCIENCE), die in Hinkunft ja mehr Neuerscheinungen, Artikel in Zeitschriften usw. behandeln soll. Enzyklopädie -- Vorbereitung, Visual Thesaurus -- Vorbereitung usw. Alles läuft hier stillfriedlich ab, und wenn ich von Zeit zu Zeit hinüberkomme, Kontakte aufrecht zu erhalten und neue anzuknüpfen, wäre alles soweit in Ordnung, ich könnte wissenschaftlich arbeiten usw. -- aber über allem hängt das Damoklesschwert. Obgleich man sich sogar an das allmählich gewöhnt. Denn -- das unterscheidet uns ja von so vielen anderen, die hinauswollen -- wir haben es persönlich vorwiegend angenehm hier. Etwas still-friedlich, aber mit guter menschlicher Umgebung, vor allem Beziehungen zu Holländern. Meine Bitte geht also dahin, 1. für alle Sicherheit zu schaffen, daß sie, wenn wir wegmüssen, Affidavits haben können. 2. Ständig Einladungen an mich (womöglich: mit Mitarbeitern) zu kommen, damit man jederzeit ein Touristenvisum haben kann. Meine nächste Einladung ist von der COLUMBIA (University Extension) für Anfang 1939. Ich hoffe, Du schreibst mir (für alle Fälle) Einladungen für früheres Datum und bemühst Dich für Anfang 1939 um reale Ergänzungen der COLUMBIA-Einladung.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Müssen die mit Bezahlung sein?}}.} Das sind meine Bitten. Nun aber zu Menschen, denen es ganz übel geht. 1. Rose Rand\IN{\rand} ist am Zugrundgehen. Sie lernt jetzt Krankenpflege und ich bemühe mich, \neueseite{}\zzz daß sie als Krankenpflegerin nach England kommen kann, wo Bedarf darnach ist.\fnEE{Zu Rose Rands Emigration nach England, danach in die USA vgl. Mihaljevi\'{c}, ,,Rose Rand: Erbitterter Kampf um akademische Anerkennung``.} Sie ist sehr unglücklich, daß von Dir und N\ae{}ss\IN{\naess} keine Briefe kommen. Er scheint ihr ein Affidavit in Aussicht gestellt zu haben. Nun ist sie glücklich Dr.~phil. und daher durchaus geeignet, ein Stipendium zu bekommen. 2. Man ist in Sorge um Zilsel\IN{\zilsel}.\fnEE{\labelcn{zilselbio}Zilsel gelang mit seiner Familie zwar die Emigration in die USA, er verübte aber 1944 Suizid. Vgl. Paul Zilsel, ,,Über Edgar Zilsel``.} Angeblich soll er jetzt nach England kommen -- aber von anderer Seite höre ich, er sei gefährdet. Also jedenfalls müßte man tun, was möglich ist. Hier in Holland ist absolut nichts zu machen, weil hier die allerstrengsten Bestimmungen sind. 3. Nun noch ein Fall, der wichtig und dringend ist. Bitte überlege, ob Du nicht irgend eine Lösung findest: PAUL HERTZ\IN{\hertzpaul} geht endgiltig aus Deutschland weg. Seine Frau, Dr. phil. Helene Hertz\IN{\hertzpaulfrau}, die Ihr beide kennt, war eben bei mir. Sie fährt mit Tochter voraus (14 Jahre alt -- ein Sohn in einer Bank in New York angestellt, einer in Yale studierend, mit guten Aussichten) -- \uline{er muß} innerhalb dreier Monate nachkommen. Die Möbel sind bereits außer Landes. Du bist ja über ihn orientiert, ich möchte nur erwähnen, daß er in GÖTTINGEN die venia für theoretische Physik und Philosophie hatte und daß er vertretungsweise (für Bernstein\IN{\bernsteinfelix}) Versicherungsmathematik gelesen hat. Ich besprach mit Frau Hertz\IN{\hertzpaulfrau} insbesondere auch die Möglichkeit, daß er in der VERSICHERUNGSPRAXIS unterkommen könnte. Hast Du irgend eine Verbindung in dieser Richtung. Ich weiß, es ist jetzt schwer, drüben unterzukommen -- aber es muß eben etwas geschehen. Ich habe Frau Hertz\IN{\hertzpaulfrau} eine Einführung an Nagel\IN{\nagel} gegeben, damit er für Hertz\IN{\hertzpaul} Kontakte mit Mathematikern und auch Morris Cohen\IN{\cohenmorris} herstellt. Der, glaube ich, würde sich möglicherweise für die Arbeiten von Hertz\IN{\hertzpaul} besonders interessieren. Ich weiß freilich nicht, ob er was für ihn tun kann. Wie stehts mit LEWIS\IN{\lewis}? Käme der in Betracht. Kannst Du die Verbindung herstellen? Oder sonstwer? Solltest Du und Ina\IN{\ina} irgend etwas wissen, bitte schreib an Frau HERTZ\IN{\hertzpaulfrau}, 407 Central Park West. Apart. 7 s c/o Rudolf H. Hertz\IN{\hertzrudolfh}. NEW YORK CITY. Gibts keinen Amerikaner, den es berührt, daß er ein Verwandter des berühmten Heinrich Hertz\IN{\hertzheinrich} ist, wenn man sich schon für seine theoretische Physik und Logistik nicht ausreichend interessiert. So, das ist das wichtigste. Ich bekomme ununterbrochen Briefe von Menschen, die Hilfe brauchen -- es ist greulich in dieser Welt eingerichtet. Und man kann so schrecklich wenig tun. Ich höre immer wieder, wie hilfsbereit Ihr wäret. Aber ich weiß auch, wie begrenzt die Möglichkeiten sind. Es wäre lieb von Dir, wenn Du mit Ina\IN{\ina} nett an Frau HERTZ\IN{\hertzpaulfrau} schriebest. Es ist eine wahrhaft deprimierende Situation. Sie möchte ihm so gern dieses oft demütigende Antichambrieren ersparen, das ihn sicherlich sehr bedrücken würde, und möchte irgend etwas erreichen, damit er nicht ganz ohne etwas beginnt. Es wäre daher von Bedeutung (rein menschlich), wenn es gelänge, ihm z.\,B. in NEW YORK oder sonstwo ein Stipendium oder so für ein halbes Jahr zu sichern, damit er nicht das Gefühl des Verlassenseins hat. Ich sprach zuletzt mit ihm in Kopenhagen -- er war sehr intellektuell angeregt, aber dabei niedergedrückt. Er wird mit dem Weltlauf schlechter fertig als die meisten von uns und das drückt ihn dann weiter nieder usw. Man muß ihm eine Atempause, eine Aufmunterung sichern! Nun werdet Ihr ja bald Frank\IN{\frankphilipp} und Hanja\IN{\frankphilippfrau} bei Euch haben\fnEE{Philipp und Hanja Frank emigrierten 1938 in die USA, wo Philipp Frank schließlich eine Stelle in Harvard erlangte. Vgl. Reisch/Tuboly, ,,Philipp Frank. A Crusader for Scientific Philosophy``.} -- wenn sie nicht als Juden und Tschechen auf deutschem Schiff im Zusammenhang mit den Ereignissen hochgehen. Er läßt sich leider nicht dazu bestimmen, früher zu fahren --- hoffen wir alles Gute. } Mit vielen guten Grüßen an Euch beide auch von M\ekl{ieze}\IN{\reidemeistermarie} \grussformel{Euer\\ON} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846627}{RC 102-54-08}; Briefkopf: msl. \original{10.~Sept. 1938}, ksl. \original{bekommen 26.9.}.}