Carnap an Neurath, Carmel-by-the-Sea/Kalifornien, 8. August 1938 Rudolf Carnap an Otto Neurath, 8. August 1938 August 1938

Lieber Neurath‚

nach langem Herumreisen, hauptsächlich in den Bergen, sind wir nun endlich an einen Platz gekommen, der geeignet ist für längeres Verweilen. Ein kleines Häuschen an einem Ort an der pazifischen Küste. Leider liege ich seit 3 Wochen wieder mit Rückenknax, wie damals, als Du im Dezember 36 in Chicago warst. Ich fange aber schon wieder an aufzustehen und hoffe, daß es bald wieder ganz gut sein wird.

Gestern waren BrunswiksPBrunswik, Egon, 1903–1955, öst.-am. Psychologe, seit 1937 verh. mit Else Frenkel-BrunswikPFrenkel-Brunswik, Else, 1908–1958, geb. Frenkel, öst.-am. Psychologin, heiratete 1937 Egon Brunswik hier zum weekend-Besuch von Berkeley aus. Wir haben noch einmal über den Terminus „Beha­vior­istik“gesprochen. Er sagte mir, daß er sich im Pariser Vortrag, um Dir entgegen zu kommen, positiver ausgesprochen hat als er es wirklich meint. Er würde „Psychologie“ entschieden vorziehen und NæssPNaess@Næss, Arne, 1912–2009, norweg. Philosoph sogar noch entschiedener, wie BrunswikPBrunswik, Egon, 1903–1955, öst.-am. Psychologe, seit 1937 verh. mit Else Frenkel-Brunswik mir sagte. Besonders in englischer Sprache sei gar kein Bedenken mehr gegen „Psychology“; was unter diesem Titel in Amerika gegenwärtig gearbeitet werde, sei durchaus metaphysikfrei. Nicht nur die alte Philosophie über „Seele“, sondern auch die zwar nicht metaphysische, aber metaphysik-gefährliche Erlebnispsychologie im deutschen Stil sei bei den Psychologen hier überhaupt nicht zu finden. Die Einführung eines ganz neuen Wortes für eine nicht wesentlich neue Sache sähe etwas anmaßend aus. Hier sind nun zwei Fragen: erstens Encyklopädieheft. Hier könnte, meint BrunswikPBrunswik, Egon, 1903–1955, öst.-am. Psychologe, seit 1937 verh. mit Else Frenkel-Brunswik, „theory of behavior“bleiben entweder als Ober- oder Untertitel; er möchte aber gern entweder im Ober- oder im Untertitel das Wort „Psychologie“haben, vielleicht, in Analogie zu andern Titeln, „Foundations of Psychology“. Zweitens allgemeine Frage. Wäre es nicht ratsamer, vorsichtig vorzugehn und Deinen Vorschlag zwar hier und da zu erwähnen, aber noch nicht durchzuführen, solange Du nicht die Zustimmung der Majorität der mit uns verbundenen Psychologen gefunden hast, deren Stimme doch hauptsächlich berücksichtigt werden sollte. Ich möchte auch MorrisPMorris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, verh. mit Trude Morris bitten, sich zu beiden Fragen zu äußern. – BrunswikPBrunswik, Egon, 1903–1955, öst.-am. Psychologe, seit 1937 verh. mit Else Frenkel-Brunswik erwartet, daß NæssPNaess@Næss, Arne, 1912–2009, norweg. Philosoph im Herbst nach Berkeley kommt; sie wollen dann zusammen das Heft in Angriff nehmen.

Die beiden neuen Nummern der „Einheitswissenschaft“habe ich bekommen. Beide scheinen mir wohlgelungen und werden sicher Erfolg haben. (Eine kleine Bemerkung zu Deinem Vorwort. Der Anfang klingt immer noch ziemlich reklamehaft. Ich glaube, das wirkt eher ungünstig. Ich hatte damals beim MS vorgeschlagen, dies zu ändern.) 🕮

Dein Cambridgevortrag. Das MS kam zu spät, als daß ich Dir vor dem Kongreß noch hätte schreiben können. Ich bin auch im ganzen mit Dir einig, wenn Du die Gefahren der Übersystematisierung schilderst. Der Unterschied zwischen uns ist, wie mir scheint, nicht eine Meinungsverschiedenheit, sondern nur ein Unterschied in der stärkeren Betonung in bezug auf folgende zwei Regeln: 1) Man bemühe sich in der Wissenschaft, so viel wie möglich zu systematisieren; 2) Man systematisiere nicht mehr, als gerechtfertigt ist durch den Stand unseres Wissens. Beide Regeln sind trivial und von jedermann zugegeben. Trotzdem wird es natürlich in einzelnen konkreten Situationen nötig sein, die eine oder andere zu betonen. Und so mag es sein, daß Du recht hast, daß angesichts bestimmter Versuche die warnende Regel (2) in Erinnerung gerufen werden muß. Mir scheint aber, man sollte daraus nicht ein hohes Prinzip machen. Das Wichtige bleibt doch immer die positive Tendenz (1). Es darf nicht so aussehen, als vergäßen wir sie. Der Motor ist doch immer noch der wesentlichere Teil des Autos, und nicht die Bremse, so nötig diese auch ist.

Dir und MiezePNeurath, Marie, 1898–1986, geb. Reidemeister, auch Reidemeisterin, Mieze, MR, Mary, dt.-brit. Pädagogin und Sozialwiss., Schwester von Kurt Reidemeister, heiratete 1941 Otto Neurath herzliche Grüße von uns beiden

Dein
R. Carnap

Schreib mal, wie der Kongreß war.

Brief, msl., 5 Seiten, ON 221 (Dsl. RC 102-54-10); Briefkopf: gedr. Rudolf Carnap\,/\,Department of Philosophy\,/\,University of Chicago und Chicago, Illinois, msl. Carmel, Cal., den 8. August 1938.


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