\brief{Otto Neurath an unbekannte Empfänger, 2. Juni 1938}{Juni 1938} \anrede{MÖGLICHST BALD MIT BEMERKUNGEN ZURÜCKERBETEN!\\Otto Neurath, Holland, DEN HAAG, Obrechtstraat 267} \haupttext{I.\hspace{2 mm}Gehen wir davon aus, daß wir in einer Enzyklopädie der Einheitswissenschaft allerlei Sätze und Satzgruppen vereinigen, Systematisierungen so gut es geht durchführen, Querverbindungen herstellen usw.. \noindent II.\hspace{2 mm}Wie kann man diese Masse der EINHEITSWISSENSCHAFT „unterteilen“? Es gibt seit jeher Tendenzen, Disziplinen abzugrenzen, die einander ausschließen. Man trachtet die Disziplinen zyklisch oder hierarchisch anzuordnen. Hier soll gezeigt werden, daß die Praxis keine solche strenge Gliederung zu benötigen scheint, ja daß eine Trennung in Disziplinen, die von „belebten“ beziehungsweise „unbelebten“ Objekten handelt, besser unterbleibt. \noindent III.\hspace{2 mm}Die Astronomie z.\,B. beschäftigt sich mit dem Milchstraßensystem, mit den Planetenbahnen, mit dem Mond. Die gegebenen Planetenbahnen werden beschrieben und so weit es geht (und das gelingt sehr gut) berechnet, die gegebene Mondoberfläche wird katalogisiert (die Verteilung der Unebenheiten ist unzulänglich berechenbar). Neben dem Mond kann man den Mars beschreiben und man müßte es wohl zur astronomischen Arbeit zählen, auf ihm Lebewesen zu entdecken. Die Erde wäre als ein Planet mit einer dünnen Schicht Pflanzen und Tiere usw. zu beschreiben. \noindent IV.\hspace{2 mm}Man könnte nun meinen, daß die Astronomie von irgend welchen „spezifischen“ Eigenschaften belebter Wesen keinen Gebrauch macht, da z.\,B. die Schwerpunktberechnung nicht davon abhängt, ob die Schicht „belebt“ oder „unbelebt“ ist. Es wäre aber denkbar, daß „belebte“ Schicht bestimmtes Verhalten zeigt, daß die Bahn eines Planeten etwas verschiebt, so daß etwa Erde, Venus und Mars, die z.\,B. belebte Schicht haben, gewisse Bahnabweichungen zeigen mögen (berechenbar, wenn man, sagen wir, die Menge des Protoplasma kennt). Sollte man nun diese drei Planeten aus der Astronomie hinauswerfen, oder nicht vielmehr sagen, daß bei den Planetenbahnberechnungen diese Punkte zu berücksichtigen sind, die wir früher nicht berücksichtigt haben. \noindent V.\hspace{2 mm}In der Geologie treten selbstverständlich Lebewesen auf, auch der Mensch, seine Waffen, Häuser usw. sind als „Leitfossilien“ zu betrachten. Und wie können wir wissen, ob nicht gewisse Vorgänge innerhalb von Eisen usw. durch „Lebewesen“ bedingt sind. \noindent VI.\hspace{2 mm}Man könnte also sagen, daß Astronomie, Geologie \gesperrt{sicher} von belebten und unbelebten Gebilden handelt, daß aber auch andere Disziplinen davon handeln könnten, von denen es auszunehmen wir keinen Grund haben. Die Abgrenzung wird in diesem Fall offenbar durch die Tatsache gegeben, daß Objekte wie SONNE, ERDE, MARS usw. relativ stabil sind und untersucht werden, weil sie in gewissem Sinne jedenfalls zusammen gehören. Inselbildung durch Korallenstöcke jedenfalls biologisch z.\,B. \noindent VII.\hspace{2 mm}Anders ists mit der Klassifikation des THEORIEN-Bestandes. Auch wenn wir wissen, daß die Erde von einer lebendigen Schicht umgeben ist, tritt dies Faktum in den Formeln vorläufig nicht auf. Man könnte die Formeln nach ihrem Begriffsbestand, ihrer Art usw. klassifizieren. Die „\unsicher{Pollen}“ kommen dann in eine Rubrik ultraviolette Strahlen mit Lichtstrahlen usw. usw. Verwendung gleicher Formeln. Die relative Stabilität bezieht sich auf kompliziertere Zusammenhänge als in den oben erwähnten Beispielen von Planeten usw. \noindent VIII.\hspace{2 mm}Wenn man nicht die Forderung aufstellt, daß die verschiedenen Aussagen einander ausschließenden Disziplinen zuzuordnen sind, mag es eine Lehre von den Haustieren neben einer Lehre von den katzenartigen Tieren geben. Man kann dann eine Lehre von \unsicher{Biebern} und Menschen entwickeln, eine Lehre von den Zeichen menschlicher Verständigung, wobei kennzeichnend ist, daß eben der Term „Haustiere“ oder „Zeichen“ immer wieder in Aussagen aufscheinen, die untereinander nicht unmittelbar verknüpft werden.} \grussformel{\editor{Otto Neurath}} \ebericht{Brief, Dsl., 1 Seite, ON 344/O.16; als Empfänger kommt vor allem das Enzyklopädiekomitee (Rudolf Carnap, Philipp Frank, Jørgen Jørgensen, Charles W. Morris, Otto Neurath, Louis Rougier) in Frage bzw. einzelne Mitglieder davon; Briefkopf: msl. \original{2.VI.38}; ohne Signatur.}