Carnap an Neurath, Chicago‚ 26. Mai 1938 Rudolf Carnap an Otto Neurath, 26. Mai 1938 Mai 1938

Lieber Neurath:

Hier einiges über persönliche Fragen:

Ich glaube, es wäre am besten, wenn Du beim nächstenmal in jedem Fall mit einem permanenten Visum hieher kämest. Ich glaube sogar, Du hättest das am besten schon vor ein oder zwei Jahren tun sollen, denn selbst wenn Du nur jedes Jahr kurz herkommst, hat es den großen Vorteil, daß Du, wenn Du mit einem permanenten Visum hier bist, ein „Reentry Permit“bekommst, das für ein Jahr gültig ist, und Dich dieses um die Sorge für weitere Visas für die Zukunft vollständig enthebt.

Ferner wird die Zeit von 5 Jahren für die Erwerbung der Staatsbürgerschaft vom Datum der ersten Landung mit einem permanenten Visum gerechnet. Wenn Du also später Dich einmal entschließen solltest, amerikanischer Bürger zu werden, so wirst Du froh sein, daß die ganzen Jahre schon gerechnet haben, ohne daß Dich dies irgendwie bindet.

Dasselbe gilt auch für MiezePNeurath, Marie, 1898–1986, geb. Reidemeister, auch Reidemeisterin, Mieze, MR, Mary, dt.-brit. Pädagogin und Sozialwiss., Schwester von Kurt Reidemeister, heiratete 1941 Otto Neurath. Da würde ich auch anraten, ein permanentes Visum zu nehmen, wenn es möglich ist. Ich bin bereit, ihr ein Affidavit auszustellen, will es aber nicht jetzt gleich schicken, sondern erst wenn sie es wirklich braucht, da ich annehme, daß ein vor längerer Zeit ausgestelltes Visum vom Konsulat vielleicht nicht mehr als vollgültig angesehen wird. Die Angabe über das Bankkonto wäre dann veraltet etc. Also schreibe, oder nötigenfalls kable, sobald ich es schicken soll.

Ich habe gehört, daß man nach Erteilung des permanenten Visums innerhalb von 4 Monaten hier einreisen muß. Falls Ihr trotzdem schon jetzt das Visum beantragen wollt, schicke ich das Affidavit sofort.

ArntzPArntz, Gerd, 1900–1988, dt.-niederl. Künstler und Grafiker mit Familie und ScheerPScheer, Josef, öst. Drucker mit Familie nehmen wir in die Liste der Kandidaten für Affidavits auf. Aber die Chance, ein solches bei fremden Leuten zu finden, sieht nicht sehr gut aus. InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap hatte durch Trude MorrisPMorris, Trude, verh. mit Charles W. Morris Verbindung mit einigen sehr reichen Juden bekommen, die sich bereit erklärt hatten, besonders jüdischen Emigranten aus Wien zu helfen. Als dann aber InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap mit der ganzen Liste der in Betracht kommenden Leute anrückte und über jeden einzelnen ausführliche Angaben machte, ergaben sich in jedem Falle Bedenken. Der eine hatte einen aussichtlosen Beruf, der andere zuviel Familienanhang etc., kurz, das Endresultat war, daß keiner von den Leuten auch nur ein einziges Affidavit ausgestellt hat. Wir selbst stellten mehrere Affidavits für Wiener Freunde aus. Ich hoffe, daß die Konsulate in den verschiedenen Ländern in Europa 🕮{}sich nicht gegenseitig die Namen der Aussteller von Affidavits mitteilen. Solltest Du aber vermuten, daß das doch der Fall ist, so wäre zu befürchten, daß der Konsul in Holland mein Affidavit wegen der anderen für Wien ausgestellten nicht mehr als sehr wirksam ansieht. In diesem Falle wird es ratsam sein, wenn Mieze sich außerdem noch um ein Affidavit von jemandem anderen bemüht.

Beiliegend Einladung. Ich bin nicht ganz klar, ob sie so gemeint war. Aber ich denke mir, Du wirst sie in Wirklichkeit gar nicht benutzen, denn wozu solltest Du ein visitor visum nehmen, wenn Du ein Dauervisum bekommen kannst?

Herzlichste Grüße, auch an MiezePNeurath, Marie, 1898–1986, geb. Reidemeister, auch Reidemeisterin, Mieze, MR, Mary, dt.-brit. Pädagogin und Sozialwiss., Schwester von Kurt Reidemeister, heiratete 1941 Otto Neurath

Dein
C.

Brief, Dsl., 2 Seiten, RC 102-54-20; Briefkopf: msl. 26. Mai 1938.


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