\brief{Rudolf Carnap an Otto Neurath, 21. April 1938}{April 1938} \anrede{Lieber Neurath,} \haupttext{ jetzt will ich Dir auf Deine zahlreichen Briefe antworten. Ich bringe die Punkte in beliebiger Ordnung wie sie gerade kommen. Am 29. März habe ich Dir geschickt: Gomperz: Ms. \glqq Interpretation\grqq, Morris' Bemerkungen zu Gomperz; Mainx Abstrakt; Rougier Abstrakt; 3 Exemplare Carnap's Abstrakt, 2 Exemplare Carnap's Bemerkungen zu Rougier; 2 Exemplare Morris' Bemerkungen zu Rougier. Ist alles richtig angekommen? Meine Galleys habe ich zurückbekommen. Besten Dank. Die Hinweise auf andere Hefte habe ich gestrichen. Größere Kürzungen habe ich nicht vorgenommen, weil Morris mir sagte, daß es nicht nötig sei, da die Press eingewilligt hat, dieses Heft größer zu machen. Den Terminus \glqq Psychologie\grqq\ habe ich doch ausdrücklich kritisiert und ihn nur verwendet, weil kein besserer gegenwärtig vorliegt, wie ich angegeben habe. Außerdem habe ich mehrmals\fnA{\original{mehreremals}} \glqq Behavoristics\grqq\ erwähnt. Ich glaube, das ist alles, was ich im gegenwärtigen Augenblick tun kann. Der neue Ausdruck gefällt mir nicht recht, und der alte ist natürlich nicht zufriedenstellend. Ich hoffe, wir finden einmal einen besseren. Ich hatte keine besonderen Bemerkungen zu Gomperz zu machen, zweifle aber, ob diese an sich interessante Diskussion für die ersten beiden Bände in Frage kommt. Ich denke mir, später könnte sie vielleicht an einem geeigneteren Platz kommen. Soll der Enzyklopädie-Konferenz-Bericht auch einen Beitrag von Dir über unsere Diskussion über Semantik bringen? Ich habe Bedenken dagegen, da ich nicht Zeit hatte, einen entsprechenden Beitrag über meinen Anteil an der Diskussion niederzuschreiben und ich auch den Eindruck hatte, daß das Ganze noch nicht hinreichend geklärt ist für eine Veröffentlichung. Falls Du aber doch einen Beitrag von Dir hierüber veröffentlichen möchtest, möchte ich ihn gerne vor dem Druck sehen, ebenso den von N\ae{}ss. Der Titel \glqq Logical foundations of the Unity of Science\grqq\ ist der von meinem Beitrag in Heft 1, nicht von meinem Heft. Das letztere soll heißen: \glqq Foundations of Logic and Mathematics\grqq. Ich werde künftig nicht mehr Randbemerkungen zu den Ms. schreiben, sondern Bemerkungen auf besondere Blätter. Du hast recht, daß das zweckmäßiger ist. \neueseite Was für Angriffe hat Russell gegen uns in Oxford gemacht? Sind sie irgendwo veröffentlicht? Kürzlich war Ayer für einige Tage hier. Er hat einige von Russell's Vorträgen in Oxford gehört und sagte, daß es eine ziemlich reaktionäre Philosophie gewesen sei. Er meinte dabei wohl, daß Russell in veraltete Fragestellungen zurückgesunken wäre, hat mir aber nichts Näheres berichtet. Du wolltest mir einmal Abschriften von Briefen von Philipp schicken. Er klagt, daß Du ihn nur ziemlich spärlich mit Literatur versorgt hast. Ich hatte ihm ein größeres Bücherpaket geschickt. Was ist's denn mit Deiner berühmten Leihbibliothek? Ist sie nicht gerade für solche Zwecke da? Ich habe natürlich auch etwas Sorge, daß Philipp sein geplantes Wörterbuch in großer Eile und ohne hinreichende Vorbereitung schaffen wird. Aber es ist doch nur für den schwedischen Leserkreis bestimmt und wenn auch manche Einzelheiten nicht gut sein werden, so mag es im ganzen doch eine nützliche Wirkung ausüben. Ich glaube wie Morris, daß wir den Plan eines Institutes hier am besten erst nach dem Harvard-Kongreß in Angriff nehmen. An Malisoff habe ich dilatorisch geschrieben; Zeitschriftenfrage noch nicht geklärt, wir werden später sehen, was zu machen ist. Woodger hat in Besprechungen mit Hempel, Helmer und mir berichtet, was er bei Hull gearbeitet hat. Es handelte sich um eine ganz spezielle psychologische Theorie auf Grund gewisser Experimente über Silbenlernen. Die ursprünglichen Formulierungen von Hull waren außerordentlich unklar. Mit vieler Mühe hat dann Woodger es fertig gebracht, Hull zu verstehen, oder vielmehr, Hull dahin gebracht, daß er sich selbst darüber klar wurde, was er selbst eigentlich damit gemeint hatte. Dein Gefühl, daß es sich hierbei um verfrühte Symbolisierung handelt, scheint mir ziemlich berechtigt. Trotzdem sind solche einzelne Versuche ganz interessant. Im ganzen glaube ich überhaupt wie Du, daß in den meisten Gebieten der empirischen Wissenschaft die Versuche zu einer Symbolisierung heute noch verfrüht sind. Trotzdem glaube ich, kann man heute schon mit großem Nutzen versuchen, gewisse Theorien in solchen Gebieten zu formalisieren, ohne logische Symbole zu verwenden. Die Formalisierung besteht dann darin, daß die Theoreme und Definitionen in eine präzise Form gebracht werden, sodaß man Deduktionen und weitere Definitionen auf einer soliden Basis aufbauen kann. Ich denke mir, man sollte versuchen, für diesen Zweck eine \glqq standardized word language\grqq{} aufzubauen, die entweder nur ganz wenige Symbole enthält oder vielleicht überhaupt keine mit Ausnahme der üblichen mathematischen Symbole und der Variablen. Ich habe einen ersten Versuch in dieser Richtung unternommen und für die wichtigsten grundlegenden \neueseite{} Formen gewisse Standard-Formulierungen festgelegt. Die folgenden Beispiele zeigen, wie so etwas dann aussieht: \medskip \noindent \glqq for every different points x, y and line u and plane p: if x and y are on u and in p, then every point on u is in p.\grqq{} \medskip \noindent \glqq Definition: a class of expressions K$_{1}$ is a symbolic genus, if and only if, for some genus K$_{2}$: for every x: x is an element of K$_{1}$, if and only if x is a symbol and an element of K$_{2}$.[\grqq] \medskip \noindent Was hältst Du von der Möglichkeit und dem Nutzen einer solchen Sprache? Bitte, schicke mir gelegentlich den Brief von N\ae{}ss zurück. Kürzlich habe ich einen Sonderdruck von ihm bekommen. Daraus habe ich doch den Eindruck bekommen, daß unsere Befürchtungen in Paris berechtigt waren. Seine Untersuchungen der Umgangssprache sind ihren Methoden nach doch ziemlich naiv und die Art der Formulierungen der Fragen an die Versuchsperson scheint mir recht ungeeignet für den beabsichtigten Zweck. Trotzdem enthalten die Untersuchungen allerhand interessantes Material. Aber für die uns interessierende Frage: \glqq Wie wird das Wort \glq wahr\grq\ in der Umgangssprache verwendet?\grqq\ ist aus solchen Untersuchungen kaum irgend etwas zu entnehmen. Denn die Untersuchungen zeigen nicht, wie das Wort verwendet wird, sondern was für eine Privat-Philosophie sich Nicht-Philosophen über die Wahrheit machen. Hast Du Reichenbach's neues Buch \glqq Experience and Prediction\grqq\ (University of Chicago Press) schon gesehen? Es enthält allerhand interessante Diskussionen, aber auch eine Menge Angriffe gegen den \glqq Positivismus\grqq, die sich aber in Wirklichkeit nur gegen Wittgensteins und unsere älteren Auffassungen richten. Hempel möchte gerne wissen, an wievielen Stellen des Buches Du schon zersprungen wärest? Wir machen jetzt allerhand Bemühungen für verschiedene Wiener Freunde. Es wird von Jahr zu Jahr schwieriger, hier Akademiker unterzubringen. Für Felix Kaufmann habe ich gemeinsam mit anderen eine Einladung von der \glqq New School for social Research\grqq\ in New York erwirkt. Soeben ist Frau Feigl auf der Durchreise von Wien nach Iowa City hier. Sie berichtet, daß Bühler verhaftet ist und daß das Psychoanalytische Institut aufgelöst wurde. Sie hat deshalb ihr Studium \neueseite{} dort abgebrochen. An Zilsel habe ich geschrieben um nähere Daten und will mich hier dann umsehen. Für Hempel und Helmer haben sich trotz aller Bemühungen noch immer keine Stellungen gefunden. Einige Sachen schweben aber noch, so hoffe ich immer noch, daß irgend etwas gelingt. Hast Du etwas über Waismann gehört? Hat er eine weitere Arbeitsmöglichkeit in England gefunden? Und ist sein Buch endlich fertig? Ich hoffe, Du hast inzwischen Nachricht von Deinem Sohn bekommen. Mit herzlichen Grüßen} \grussformel{Dein\\Carnap} \ebericht{Brief, msl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846688}{ON 221 (Dsl. RC 102-54-36)}; Briefkopf: gedr. \original{Rudolf Carnap\,/\,Department of Philosophy\,/\,University of Chicago} und \original{Chicago, Illinois}, msl. ergänzt durch \original{21.~April 1938}.}