Otto Neurath an Rudolf Carnap und Charles W. Morris, 26. März 1938 März 1938

Lieber Carnap
Lieber Morris

Ich freue mich die Korrekturen zu lesen. Durch die Kürzungen sind in meinem Artikel ein paar Unebenheiten entstanden, die ich hie und da ein wenig ausgeglichen habe. Durch Zusammenziehung fiel die ATTITUDE unter den Tisch, die ich, weil mir sehr an ihr liegt, wieder in einen Untertitel einfügte.

Ich antworte möglichst gemeinsam, da Ihr ja doch das meiste zusammen besprechen werdet.

I. BEHAVIORISTICS. Ich finde, daß BrunswikaKsl. Vervollständigung von Brunswik. keine starken Bedenken hat. Solltet Ihr aber meinen, daß es nicht geht, etwas aufrüttelnd zu wirken, so möge halt der Titel THEORY OF BEHAVIOR bleiben, der aber nicht so anregend ist.

„Objektive Psychologie“kommt, glaube ich, nicht in Frage. Eine „DISZIPLIN“ kann doch nicht so heißen. Sie soll doch an die Seite gestellt werden von: Astronomie, Geologie, Sozialwissenschaften usw.

Man kann natürlich eine Richtung durch dies Wort kennzeichnen und sagen, jemand vertritt eine „objektive Psychologie“(z. B. vom Gegenstande her) im Gegensatz zu jemandem, der eine „subjektive Psychologie vertritt“. EMPIRISCHE SOZIOLOGIE z. B. kennzeichnet einen STANDPUNKT, nicht eine DISZIPLIN. Nie würde ich dafür sein, etwa ein Heft der Enz[yklopädie] „Empirisische Soziologie“zu nennen – obgleich ich ein Buch als Protest gegen die Metaphysiker so nannte.

Sollte aber „Objektive Psychologie“eine Disziplin bezeichnen, dann wäre es zu naheliegend, nach dem Heft: „Subjektive Psychologie“zu fragen.

II. METHODOLOGY. Der Terminus wurde viel mißbraucht und führt leicht zu metaphysischer Spekulation. Ich wäre froh, wenn wir immer PROCEDURE statt METHOD sagen würden. Man sagt leicht: geisteswissenschaftliche Methode, aber schwer procedure! Das ist so handfest. Aber ich würde wegen dieses Terminus mich nicht weiter aufregen. So schlimm ist er wieder nicht.

III. Hingegen wäre ich MORRIS sehr dankbar, wenn er seinen UNTERTITEL „METHOD IN PHILOSOPHY“ändern wollte. Ein Untertitel gehört schon zum Text und, wenn er es wichtig findet, muß mans lassen. Mein Bedenken ist:

METHOD IN SCIENCE und METHOD IN PHILOSOPHY legt einen Parallelismus nahe, der doch MORRIS selbst fernliegt. Während ich vorn erzähle, daß wir keine besonderen philosophischen Sätze haben, gibt es da sogar eine besondere philosophische Methode. Der Unterabschnitt behandelt eigentlich pragmatical, logical and empirical factors – d. h. er entwickelt die Hauptthese von Morris, daß man nicht einseitig einen Faktor überbetonen solle. Das könnte doch der Untertitel sagen.

IV. Mit der Änderung des Haupttitels‚bKsl. Für Morris Aufsatz in Heft 1. den wir ja gemeinsam fest🕮 gesetzt haben, kann ich mich nicht abfinden. Lassen wirs bei dem vereinbarten SCIENTIFIC EMPIRICISM.

Die Einleitungsartikel sollen ja nicht neue Vorschläge bringen, sondern jeder der drei Herausgeber spricht sozusagen von seinem in der Bewegung traditionellen Standpunkt aus zum Gesamtproblem. MORRIS – es handelt sich nicht darum, ob alle dem zustimmen – hat die allgemeine diplomatische Anerkennung seines Standpunkts erreicht, der durch „Scientific Empiricism“gekennzeichnet wird. In unserem COMMONWEALTH gibts dies Dominium, so wie Carnap eins hat und Neurath und Frank usw.

„METASCIENCE“ist meiner Ansicht nach ein sehr bedenklicher Terminus und sicherlich anfechtbarer als BEHAVIORISTICS. Man müßte über den neuen Terminus noch viel diskutieren. Ganz kurz: SCIENCE OF SCIENCE ist für mich eine stimulierende Wendung, die vielleicht einmal einen bestimmteren Inhalt bezeichnen wird. Ich kann mir denken, daß dieser Terminus in seiner Unbestimmtheit nützlich wirkt. Ich glaube, daß sehr Verschiedenes darunter fällt, was kaum sich zu einer Disziplin verknüpfen läßt – aber das ist eine offene Frage. Ich zweifle, ob die eingegliederte Semantik dem entspricht, was die Polen darunter verstehen – aber das mag MORRIS mit ihnen ausmachen. Was man unter „Metalanguage“unter bestimmten Umständen versteht, läßt sich klar machen. Aber ich zweifle, ob man Metascience gut abgrenzen kann durch Sätze bestimmter Art usw. SCIENCE OF SCIENCE kann man viel eher als ein Bonmot hinnehmen – wird eine systematische Sache daraus – gut, wenn nicht, so bleibt die stimulierende Idee. Aber METASCIENCE klingt so, als ob schon so etwas im Umriß da wäre.

Das war ein inhaltliches Bedenken. Terminologisch, scheint mir, ist bedenklich, daß wir gegen „SUPER SCIENCE“uns wenden und nun den Terminus „META-SCIENCE“ anwenden, der zu sehr vielen Mißverständnissen Anlaß geben wird. Wenn MORRIS im Text diesen Terminus vorschlagen will, so steht es ihm frei. Ich würde denken, daß das vielleicht besser in seiner eigenen Monographie geschieht. Ich denke mir, die Einleitungsartikel sollten nicht so strittige Punkte in den Vordergrund schieben. Während wir die Titel festsetzen, ist jeder Mitarbeiter frei zu schreiben, was er für gut findet. Ich kann da nur meine Bedenken äußern.

Wenn auch MORRIS sagt, daß metascience is an element within unified science, so habe ich doch ernste Bedenken, wenn ich lese, daß die Encyclopedia is devoted to metascience. Ich würde das nicht annehmen, sie dient der Zusammenfügung der wissenschaftlichen Arbeit unter Hervorhebung des logischen Rahmenwerks, der Untersuchung der wissenschaftlichen Struktur dient das alles, aber sie ist als eine ex offo Arbeit nur ein Teil des Unternehmens. Eine Arbeit, die das logische Gerüst vorführt ohne darüber zu sprechen, würden wir doch auch aufnehmen. So meine ich wenigstens.

Aber ich glaube, daß MORRIS im ganzen ähnlich denkt und nur eine besondere Vorliebe für diesen Gedankengang hat, der aber in der Monographie, Heft II doch erörtert wird.

V. Titel der Monographie I.?

Da UNITY OF SCIENCE ein Büchlein von CARNAP heißt, UNIFIED SCIENCE das von mir heißen wird, kommen diese beiden Titel nicht in Frage. Ich meine, daß der Vorschlag am besten ist: ENCYCLOPEDIA AND UNIFIED SCIENCE. Das umfaßt alle Artikel recht gut. 🕮

VI. Habe Bedenken, daß Andrade, Bloomfield Heft 3 bekommen. Wenn sie wirklich nach vorn sollen – was ich von einer genauen Lektüre des Textes abhängen lassen möchte –, dann als Heft 4, aus folgendem Grund. CARNAP wird in seinem Heft alles behandeln, was mit Logik, Mathematik einerseits als KALKÜL zusammenhängt, andererseits, was man damit anfangen kann in den Wissenschaften. Er wird, so meine ich, von der Axiomatisierung im allgemeinen sprechen als auch von der Analyse konkreter Sprachen. Das führt zu GENERAL LINGUISTICS. Ich kann mir nicht denken, daß Andrade und Bloomfield jetzt schon imstande sind, etwas so Grundsätzlich-Umfassendes zu schreiben, daß es sozusagen Carnap vorbereitet. Es liegt wohl noch umgekehrt. GENERAL LINGUISTICS betrachte ich als ein Experiment, ähnlich wie WOODGERS FORMALIZED BIOLOGY. Experimente wollen wir ja nicht abweisen, aber besonders in den 20 Einleitungen lieber an 2. Stelle.

VII. WOODGER schrieb mir schon, was mir aus grundsätzlichen Gründen lieb ist. Ich möchte gern wissen, was wirklich jemandes Wunsch ist. Ich glaube, der Vorschlag von MORRIS, daß RASHEVSKY etwas schreibt, um so ein Heft WOODGER, RASHEVSKY zu bekommen, scheint mir sehr zweckmäßig. Damit ändert sich am wenigsten unser Gesamtplan. Ich bin immer dafür, ihn möglichst zu lassen, wie er ist. RASHEVSKY müßte freilich die Probleme ähnlich allgemein wie WOODGER fassen, etwa das Modellproblem im Bereich der Theorie usw. Bitte unverbindlich anzufragen. Man müßte doch auch MAINX darüber hören. BERTALANFFY kommt wohl erst für spätere Bände in Frage. Seine Auffassung liegt uns doch etwas ferner. Rashevsky hat ja Konkretes zu berichten.

Ich lege Wert darauf, daß Woodger sich möglichst auf die Axiomatisierung der Biologie beschränkt, damit nicht mit BUNSWIK und NÆSS Schwierigkeiten entstehen. Er kann natürlich erwähnen, was seiner Meinung nach für Anregungen für die Psychologie entstehen mögen. Aber die AXIOMATISIERUNG scheint mir dort noch viel, viel weniger fortgeschritten als auf dem Gebiet der Biologie.

VIII. Natürlich soll Axiomatisierung behandelt werden. Aber, wie ich schon mehrfach schrieb, das ist alles noch so im Anfang, daß man dem kein Heft widmen soll. CARNAP hat reichlich Gelegenheit darüber zu reden und WOODGER bringt sogar ein Beispiel. Jetzt ist ja auch kein Heft-Manko mehr. Ich will einmal mit Frank und anderen das eingehend besprechen. Wenn Frank in USA ist, sollt Ihr das mit ihm erörtern.

IX. Über Bd. III werden wir uns noch oft unterhalten. UNIFICATION OF SCIENCE war nur ein beiläufiger Titel. Es soll da alle Systematization, alle Organization of Knowledge behandelt werden. Es kann PROCEDURES usw. usw. erörtert und analysiert werden. „ORGANON“ist für mich immer ein bedenklicher Terminus. Ich kann nicht dagegen an, aber ich fühl den Terminus als „klassisch“, denk da immer an Aristoteles und Bacon.

X. Bitte den Haupttext des Enriques-Kompromiß auf Seite 3 des Umschlags unterzubringen. Aber bitte den Wortlaut genau nachsehen, den damals die Diplomatie festgestellt hat.

XI. Inzwischen schrieb ich, daß es wichtig wäre, wenn die PRESS die Sammlung EINHEITSWISSENSCHAFT übernimmt. UNIFIED SCIENCE würde sie dann heißen.

XII. Ich nahm an, daß mit Malisoff nochmals probiert wird. Er müßte zugestehen, daß wir – wie das viele Zeitschriften machen, eine Sonderabteilung mit Sondertitel und Sonderredaktion bekommen. 🕮 Lieber wäre mir kleine ZEITSCHRIFT, die wir selbst machen. Womöglich eine dünne Monatsschrift, die anderen Charakter als die von MALISOFF hat – manchmal Doppelnummern.

XIII. Heft von Dürr kenne ich. War eine Antrittsvorlesung und ist ein Dokument mit interessanten Details.

XIV. Also INITIAL LETTER verschwindet überall. Die Seitenzahl in der Mitte der Seite ist nicht gut. Aber warten wir die oben ab. Ich hoffe, sie kommen rasch.

XV. Ich verstehe die Bedenken gegen „section“als Titel. Aber im großen Index könnte man davon sprechen.

XVI. Mit laufendem Kopftitel einverstanden. Hoffe noch Probe zu sehn.

XVII. Wichtig ist, daß wir genug Hefte in CAMBRIDGE haben und daß die Propaganda-Texte bald kommen. In Europa würde Beifügung der Titelblätter günstig wirken, mit Advisory Committee usw.

XVIII. Hefte nicht zu verschieden – all right. Aber ich möchte wissen, welche MARGE die PRESSE für möglich hält, wenn sie alle Hefte zu 1 Dollar verkauft.

XIX. Einverstanden. INDEX mit Bibliographie verbunden. Neudruck des Heftes, wenn mehrere andere neu erscheinen.

XX. Daß Ihr oft etwas rasch entscheiden müßt, ist ja klar. Ich warnte nur davor, so allgemeine Dinge wie Umfang der Hefte usw. mitzuteilen, weil so was zentral hinausgehen muß. Auch sonst ist zentrale Regelung vorzuziehen. Ich möchte vor allem, daß das, was die Herausgeber sagen wollen, gemeinsam gesagt wird und wir nicht zu viel divergente Kritik ausüben.

XXI. Termin CAMBRIDGE (12. Juli kann für Vorbesprechungen verwendet werden) 13. Juli abends informelleaunformelle Zusammenkunft. Eröffnung 14. Juli morgens pünktlich. Bis 19. Juli.

XXII. Neurath, Bohr, Dewey, Russell, Carnap, Morris ReihenfolgecKsl. Heft 1.– einverstanden.

XXIII. Bin einverstanden, einen Band über Gesamtgeschichte des menschlichen Denkens zu machen. Inklusive Magie, Theologie, Philosophie. Das wäre zum ersten Mal, glaube ich, daß Empirismus in der Mitte steht, als Wissenschaftsgeschichte, und das andere als Randerscheinung. LOGICALIZATION auf dem Marsche, EMPIRICALIZATION auf dem Marsche (PRAGMATICALIZATION wird MORRIS hinzufügen). ABER– ich bin absolut dafür, daß jeder Band historisch-kritische Darstellung seines Gebietes bekommt nach dem Muster von MACH. Das ist was anderes! Ich nehme an, daß Ihr damit einverstanden seid. Für Optik z. B. sehr wichtig, ebenso für Mechanik usw., Biologie.

XXIV. Ich will, wie MORRIS anregt, immer über den ganzen Geldbetrag zentral verfügen, einen Teil möchte ich auf dem Konto unseres Instituts in USA lassen. Wegen Übersetzungen usw. werden wir noch reden müssen. Wie stehts mit den jungen Mitarbeitern, die Morris hat? Er dachte mal an die.

XXV. Fußnoten. In Monographie I NUR AM SCHLUSS. Es handelt sich ja um Einleitungen zur Gesamtenzyklopädie und der Fluß der Darstellung soll nicht durch solche Pedanterien unterbrochen werden. Aber ab Monographie II können die Noten am Fuß der Seite sein. Aber möglichst wenig Noten. Und längere Sachen, auch Formeln, im Anhang. 🕮

XXVI. Ich bin froh, daß wenigstens bis 15. Juni eine Frist den so bedächtigen, vorsichtigen, ängstlichen und nicht splendiden Europäern zugestanden ist. Da können sie Heft 1 und 2 ansehen, bevor sie Subskriptionen unterfertigen.

XXVII. Bitte sich um Kaempffert sehr zu kümmern. Er will wirklich unserer Sache nützen, jede Auskunft an ihn ist daher wichtig.

XXVIII. I hope to receive copies of Science and mimeographed material. I suggest that the PRESS (or the CAMBRIDGE PRESS) may propagate the Encyclopedia during the Congress. OGDEN has a bookshop in Cambridge. Perhaps he could manage it.

XXIX. Der Vorschlag mit China sollte nur Eurer Anregung entgegenkommen. Ich habe keine Eile damit.

XXX. Ich wäre froh, wenn jeder Autor von seinem Beitrag 20 Freiexemplare bekommen würde, wie sonst üblich. Daß jeder Autor ein komplettes Exemplar bekommen sollte, hatte ich nicht gedacht. Später wird ja manchmal die Zahl der Mitarbeiter recht groß werden. Wir benötigen nicht wenige der Exemplare, um ein komplettes set all denen zu geben, die seinerzeit so freundschaftlich Geld zur Vorbereitung der Enzyklopädie zur Verfügung stellten. Ich dachte höchstens BOHR, RUSSELL, DEWEY als einleitenden Gästen je ein Exemplar ehrenhalber zu senden. Vielleicht redet Ihr mit der Press darüber. Ich nahm an, daß das gemacht wird wie üblich. Die vertraglich festgelegten Exemplare sind darüber hinaus gemeint gewesen.

Mit herzlichen Grüßen

auch an alle anderen

Euer
Otto Neurath

Brief, Dsl., 5 Seiten, RC 102-54-42 (weiterer Dsl. ON 221); Briefkopf: gedr. International Institute for the Unity of Science mit näheren Angaben, msl. 26.III.38.


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