Neurath an Carnap, Den Haag, 9. März 1938 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 9. März 1938 März 1938

Lieber Carnap:

Ich muß sagen, daß mir nie ein besseres Wort als BEHAVIORISTICS einfiel. In PARIS 1937 hat ja BrunswikPBrunswik, Egon, 1903–1955, öst.-am. Psychologe, seit 1937 verh. mit Else Frenkel-Brunswik seine Bedenken gesagt und gemeint, es sei immerhin noch der beste Terminus. Er hat ganz recht, ganz zutreffende Termini sind leicht völlig leer und zu speziell. Jetzt ist „BEHAVIOR“so populär und der alte Behaviorismus von WatsonPWatson, John B., 1878–1958, am. Psychologe so vergessen, daß man den Hunderttausenden – um die handelt es sich ruhig Behavioristics vorschlagen kann. Ich nehme an, daß der Terminus ungemein schnell assimiliert sein wird, weil „Psychologie“ vielen schon unangenehm ist. Daß Bedenken bestehen – wer wollte das leugnen. Mit der „Leistung“als Terminus werden wir heute nicht weit kommen, er ist zusehr Theorie, zuwenig Tagesausdruck, während Behavior ins Ohr geht und daher auch Behavioristics. So sage ich, ein alter erfahrener Wortepräger und Wortevertreter – aber ich bin gern bereit, einen andern Terminus zu wählen, da ich nicht sehr interessiert bin, obs so oder so heißt, aber ungemein, daß es nicht Psychologie heißt. Ich würde Dir raten, möglichst oft explizit zu sagen: in der Lehre, die sich mit menschlichem Verhalten und Leistungen beschäftigt und nur in Klammer (was man noch Psychologie zu nennen pflegt). 🕮{}Ich bin am Negativen interessiert. Wenn Du liebevoll erwähnst, wie Du vorhast, daß ich Behavioristics vorgeschlagen habe, so genügt das zunächst meinem Protestdurst gegen die Psychologie. Ich habe mir allerlei Literatur auf diesem Gebiet durchgesehn und kann Dir sagen, daß es von Seele, Ideen, Geist usw. nur so wimmelt. Behavioristics schließt viele Betrachtungen aus, die wir nicht wünschen. Aber Name ist Schall und Rauch – Wissenschaft ist alles.

Na ja, ich habe nicht Zeit, alle auf „klären“bezüglichen Witze zu erzählen, aber ich hoffte, INAPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap wisse sie alle. Also z. B.: Zwei Schriftgelehrte sitzen beisammen. A: Wie käme der Buchstabe L in Eva. B: Aber in Eva ist doch gar kein L. A: Warum ist denn in Eva kein L? B: Wie käme der Buchstabe L in Eva. A: Siehst Du, das ists ja gerade, was ich gefragt habe.

Das habe ich Dir hochdeutsch erzählt. In „Wirklichkeit“beginnt der Witz so: „Zwei Rabbunim klären, der eine fragt den anderen: Was klärst? Der antwortet: Ich klär, wie käm das Lameth …“ Was denkst Du über die scharfe Erwiderung von ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph auf NagelPNagel, Ernest, 1901–1985, am. Philosoph, verh. mit Edith Nagel und die merkwürdigen Anspielungen auf den Standpunkt, der sich da offenbare? Will er die Polemik gegen uns in USA tatsächlich fortsetzen oder sehe ich den Artikel schärfer geschrieben an, als er gemeint ist? RussellPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph war doch immer etwas streng gegen ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph, wie kommt es wohl, daß er ihn in der Einleitung so stark hervorhebt? Hängt das mit RussellsPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph AngriffenaKsl. Was ist das?. auf uns in Oxford zusammen? Oder mit was anderem? Im übrigen wundere ich mich ja nicht, wenn jemand ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph lobt, da er doch seine Meriten hat, aber ich wollte nur RussellsPRussell, Bertrand, 1872–1970, brit. Philosoph Haltung begreifen.

Ich bitte, mir wenn möglich Doppelseparata zu senden. Es ist große Nachfrage nach Dir. Die Leihbibliothek ist schon stark benutzt, wenn auch noch nicht international. Ich werde wohl bald eine kleine Liste versenden, was da ist.

Das käme alles später in unsere Zeitschrift.

Ich habe PhilippPPhilipp, Rudolf, *1895, öst.-schwed. Schriftsteller allerlei geschickt. Über die Eigenart seiner Briefe werde ich Dich mal durch Abschrift orientieren.

Heute ist dazu nicht Zeit – habe zu viel zu tun. Ebenso das ganze Büro. (Die Welt ist ganz beklemmend. Schrecklich geradezu. Na ja. Wozu haben wir in der Geschichte alles schon gelesen.)

Vor dem Sommer komme ich kaum nach USA. (AyerPAyer, Alfred Jules, 1910–1989, brit. Philosoph will kommen.) Es sei denn, irgend wer ladet mich ein und zahlt die Fahrt, so was ist ja schon passiert. Ich hoffe, es passiert wieder.

Herzliche Grüße Euch allen zwei beiden

Dein
ON

Lieber Carnap!

Die Idee, nach USA zu gehen, kann eventuell sehr ernsthaft werden. Bitte behalte das im Auge.

NthaHsl. Einschub.

Brief, msl., 2 Seiten, RC 102-54-47 (Dsl. ON 221); Briefkopf: gedr. International Institute for the Unity of Science mit näheren Angaben, msl. 9. III. 38.


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