\brief[Carnap an Neurath, Chicago, 24.~Februar 1938]% {Rudolf Carnap an Otto Neurath, 24. Februar 1938}{Februar 1938} \anrede{Lieber Neurath,} \haupttext{\cutcn{besten Dank für Deine verschiedenen Briefe. Die Gründung einer eigenen Zeitschrift durch Reichenbach kommt doch sicherlich gar nicht in Frage. Vielleicht hat er das auch ernstlich nicht so gemeint, sondern nur suggerieren wollen, die Regelung der Zeitschriftenfrage zu verschieben, bis er nach Amerika kommt. Aber wir wollen natürlich die Sache möglichst beschleunigen. Soeben ist ein Brief von Meiner\IN{\meinerfelix} eingetroffen, in dem er die Bedingungen der Chicago Press annimmt. Dieses eine Problem wäre also damit gelöst. Bleibt das zweite: die verlangten \$ 6000,-- Zuschuß für die ersten drei Jahre aufzutreiben. Bisher ist in dieser Richtung noch nichts gelungen. Ich will jetzt nochmals mit der \glqq Press\grqq\ verhandeln, was gemacht werden kann ohne solchen Zuschuß; Morris dachte an Subskriptionen im voraus. Was meinst Du mit dem \glqq Entwurf von Lenzen\grqq? Du schickst einen bloßen Abstract; Morris hatte aber schon vor Wochen einen ganzen Manuscript-Entwurf bekommen. Morris und ich haben ihn gelesen und mit Randbemerkungen versehen. Da ich die Randbemerkungen nur auf den Rand geschrieben habe, kann ich sie Dir nicht schicken. Ich schlage vor, daß Du alle Autoren bittest, einen Ms.\ekl{-}Entwurf, bevor er noch ganz druckfertig ist, in 2 Exemplaren zu schicken, eines an Dich, eines hieher, mit breitem Rand (etwa \nicefrac{1}{4} der Seitenbreite). Schreibe dazu, daß die Herausgeber dann Randbemerkungen und Vorschläge machen werden, um die Einheitlichkeit des Gesamtwerkes zu sichern. Ich glaube, die Abstracts, die Du jetzt von den Autoren erbittest, sollten alle zusammen mimeographiert werden, sodaß jeder Autor alles zusammen bekommt. Dann ist es nicht nötig, daß jeder Dir 4 Exemplare schickt. In Deinem Ms. konnte ich doch nicht gut die Verbindungen herstellen, denn ich weiß ja nicht, wie Du sie meinst. Gerade die Tatsache, daß es mir oft schwer fiel, zu verstehen, wie die Verbindung gemeint war, gab den Anlaß, Dich darum zu bitten, sie herzustellen. Ich glaube, es wäre richtiger, wenn wir ruhig einige Tage Zeitverlust in Kauf nehmen, wenn dadurch unsere Ms. in besserer Form kommen. Das Einzelblatt über \glqq Enzyclopedism\grqq\ habe ich mit zum Druck gegeben. Ich hatte allerhand Bedenken dazu; ich hatte den Eindruck, daß Du es ziemlich hastig niedergeschrieben hast. Ich habe darum verschiedene Randbemerkungen dazu gemacht, wollte es natürlich nicht zurückschicken, um Verzögerung zu vermeiden. Du wirst es ja mit den Korrekturen bekommen und kannst dann, wenn Du willst, noch meine Bemerkungen berücksichtigen. \neueseite{}} \uline{Meine Arbeit}: Ich bin Dir sehr dankbar für die zahlreichen Bemerkungen und bin jetzt schon seit einigen Tagen dabei, die Sache gründlich umzuarbeiten unter Berücksichtigung Deiner und Morris'\IN{\morris} Bemerkungen. Das macht mir aber ziemliche Schwierigkeiten, weil eine gemeinsame und befriedigende Terminologie für die Wissenschaftszweige fehlt. Einmal war ich dabei, das Ganze auf \glqq Behavoristics\grqq\ umzuarbeiten. Aber bei näherem Überlegen kamen mir doch erhebliche Bedenken gegen dieses Wort und ich möchte Dich doch bitten, diese Bedenken doch noch einmal zu überlegen, bevor Du Dich entschließt, das Wort einzuführen. Die Hauptgefahr dabei ist, daß trotz aller Warnungen die Leser das Wort \glqq Behavior\grqq\ in dem bisher üblichen Sinne verstehen werden, besonders da es von den älteren Behavoristen, z.\,B. Watson\IN{\watsonjohn}, so gebraucht worden ist, nämlich als Bezeichnung für das äußere beobachtbare Verhalten. Wenn Dein Wort eingeführt werden soll, muß aber unter \glqq Behavior\grqq\ viel mehr verstanden werden: 1. die Vorgänge im Inneren des Körpers, die man etwa mit einem Mikroskop beobachten könnte, wenn man hineindringen könnte, und 2. die Dispositionen zu (äußeren und inneren) Vorgängen, die sich nicht selbst durch irgendwie beobachtbare Vorgänge kundtun. Außerdem müßten in Brunswik's\IN{\brunswik} Sinn noch die Leistungen mit einbegriffen werden. Wenn wir aber das Wort in diesem weiteren Sinn verstehen, ist es wieder problematisch, wie die Abgrenzung gegen die Biologie (im engeren Sinne) zu machen ist, weil in diesem weiteren Sinn von \glqq Behavior\grqq\ die gesamte Physiologie mit zu Behavoristics gehören würde. Mein Vorschlag ist also, daß wir uns gemeinsam mit Brunswik\IN{\brunswik} die Sache erst noch besser überlegen, bevor wir einen neuen Term einführen. Ander\ekl{er}seits sehe ich sehr wohl die Nachteile des Wortes \glqq Psychologie\grqq , und auch nicht nur des Wortes, sondern auch des damit abgegrenzten Gebietes. Ich werde auf Deinen Rat hin meine Pyramidisierung erheblich abschwächen. Ich werde im wesentlichen nur zwischen Physik und Biologie einen deutlichen Unterschied machen und dann sagen, daß man innerhalb der Biologie in bezug auf Verhalten von Einzel-Organismen und Gruppen für praktische Zwecke Gebiete abgrenzen kann (ohne scharfe Grenzen), die ganz roh der bisherigen Psychologie und der Sozialwissenschaft entsprechen, ohne aber mit deren üblicher Abrenzung zusammen zu fallen. Ich werde erwähnen, daß der Ausdruck \glqq Behavioristics\grqq\ für dieses Gebiet vorgeschlagen worden ist, daß aber sowohl die Abgrenzung des Gebietes als auch seine Benennung noch weiterer Diskussion bedarf. Für die These von der Reduzierbarkeit ist natürlich die bisherige Einteilung in 4 Gebiete keineswegs wesentlich. Jede andere Einteilung ist dafür ebenso recht, weil die Einteilung nur \neueseite{}\zzz dem praktischen Zweck dient, ein Schema abzugeben für die Durchmusterung der verschiedenen Arten von Begriffen, die in der Wissenschaft auftreten. In irgend einer neuen Klassifikation wird dann ebenso wie in der alten zu zeigen sein, daß die Terme jeder einzelnen Klasse auf die der Dingsprache zurückzuführen sind. Was \glqq klären\grqq\ auf chinesisch bedeutet, konnte mir auch Ina nicht deuten. Beim Terminus \glqq wahr\grqq\ habe ich den anstößigen Satz gestrichen und nur kurz bemerkt, daß dieses Wort in seiner üblichen Bedeutung in der Semantik definiert werden kann. \uline{Als Titel meines Beitrages} möchte ich nehmen \glqq Logical Foundation of the Unity of Science\grqq . Was meinst Du dazu? \uline{Als Titel des Heftes} scheint mir \glqq Integration of Science\grqq\ ganz gut. Falls Du das Wort \glqq Enzyclopaedia\grqq{} gerne hineinbringen willst, könnte man vielleicht sagen: \glqq Encyclopaedia and Integration of Science\grqq .\fnEE{Das einleitende Heft der Enzyklopädie erschien als Neurath et al., \textit{Encyclopedia and Unified Science}; darin enthalten u.\,a. Neurath, ,,Unified Science as Encyclopedic Integration``; Carnap, ,,Logical Foundations of the Unity of Science``.} Aber das ist ziemlich lang und schwerfällig. Schächter\IN{\schaechter} kommt wohl kaum als Mitarbeiter an der Enz\editor{yklopädie} in Frage, wenigstens vorläufig nicht, später können wir ja einmal sehen. Ich glaube, ich habe Dir alle Separata geschickt, mit Ausnahme der Kongreß-Vorträge, da Du ja die Kongreßakten hast. Ich schicke sie Dir gerne, falls Du sie noch gesondert haben möchtest. Falls Dir sonst noch etwas von meinen Sachen fehlt, schreibe es mir bitte. Oder willst Du für die Leihbibliothek noch Sonderdrucke bekommen über die hinaus, die ich für Dich geschickt habe? Dubislavs\IN{\dubislav} Freund, Rudolf Philipp\IN{\philipp}, schrieb mir aus Stockholm, daß er ein ganz populäres Buch über die Entwicklung der Wissenschaft schreiben will. Er schreibt sehr gut, hat ein sehr erfolgreiches Buch über die Bat'a-Werke\fnEE{Mit der Einführung der Fabriksfertigung wurde aus dem 1894 gegründete Schuhunternehmen ein global agierender Konzern.} geschrieben,\fnE{Philipp, \textit{Der unbekannte Diktator Thomas Bat'a}.} das Du vielleicht kennst. Ich habe ihm jetzt ein ganzes Paket mit Büchern geschickt, da er unabhängig von der Bibliothek arbeiten will. Er wird sich auch an Dich wenden, bitte schicke ihm doch, was Du kannst. Er ist wirkliche ein fähiger Mann und verdient Unterstützung. Er ist auf Betreiben von Bat'a\IN{\bata} aus der \v{C}SR ausgewiesen worden. Kommst Du noch vor dem Sommer nach Amerika? Mit besten Grüßen} \grussformel{Dein\\Carnap}%\Apagebreak \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846735}{ON 221 (Dsl. RC 102-54-59)}; Briefkopf: gedr. \original{Rudolf Carnap\,/\,Department of Philosophy\,/\,University of Chicago} und \original{Chicago, Illinois}, msl. ergänzt durch \original{24.~Februar 1938}.}