\brief{Otto Neurath an Rudolf Carnap und Charles W. Morris, 14. Februar 1938}{Februar 1938} \anrede{An CARNAP und MORRIS} \anrede{MORRIS THEORY OF SIGNS.} \haupttext{ Ich stimme mit Morris überein (siehe seinen Brief vom 30.I.), daß man nach Systematisierung streben soll. Ich möchte von uns allen [--] mich eingeschlossen -- sagen, daß wir stillschweigend oder explizit mehr systematisieren, als wir wirklich verantworten können. Besonders im Klassifizieren sind wir alle weit unserem eigenen Stadium voraus. Ich suche mich selbst zu bremsen und sage mir immer ENCYCLOPEDISM, ENCYCLOPEDISM zur Warnung. Daher bringe ich Schemata viel seltener, als meinem eigenen Wunsch entspricht, und ich klassifiziere Dinge erst dann, wenn es schon gar nicht anders geht und suche dann nicht die Klassifizierung antizipierend komplett zu machen. Ich sehe in der Arbeit von MORRIS -- so scheint mir -- etwas mehr KLASSIFIKATION von Disziplinen als SYSTEMATISIERUNG durch Aufzeigung ihrer Sätze, oder ihrer tatsächlichen Bereiche, ihrer FUNKTION INNERHALB DES WISSENSCHAFTSBETRIEBS. Ich möchte die Bemühungen von Morris nicht missen und glaube, daß sie sehr viele anregen werden sich darüber Rechenschaft abzulegen, was alles überlegt sein will, daß man viel mehr Disziplinen braucht, um Probleme zu sortieren, als man üblicherweise hat usw. \gesperrt{ABER} mir scheint, daß die Klassifikation weiter reicht, als die heute schon erzielbare Klarheit auf diesem Gebiet. Ich könnte zahlreiche Beispiele aus der Geschichte des menschlichen Denkens bringen, die zeigen, wie man ganze Disziplinen abgrenzte, Wissenschaften klassifizierte, Schemata zeichnete -- und wie wenig davon sich durchsetzte und wenn, wie bedenklich das war, z.\,B. hat die Französische Enzyklopädie die Bacon'sche Klassifikation der Wissenschaften verwendet. Ich werde daher im allgemeinen -- ohne einen Mitarbeiter irgendwie hemmen zu wollen -- wenn ich ausdrücklich gefragt werde, sagen, daß ich auf Grund meiner Erfahrungen im wissenschaftlichen Betrieb und vor allem auch im Gebiet der historisch-kritischen Analyse von Wissenschaftsgeschichte gegen antizipierende Klassifikation von Disziplinen bin. Reale Systematisierung erfolgt durch Verknüpfung wissenschaftlicher Sätze, durch Aufzeigung ihrer Zusammengehörigkeit, die Klassifikation ist doch mehr sekundär. In der Arbeit von Morris habe ich ja nicht gegen die Sätze das Bedenken, sondern gegen die Architektur. Ich würdige ganz die Arbeit, insbesondere die Vorarbeit, aber obgleich ich ja selbst von Zeit zu Zeit Termini vorschlage (und einige Erfahrung habe, welche Chance Termini haben), habe ich jedesmal Scheu davor. Die Ähnlichkeit der Termini, die in der Chemie so viel besagen, ist in der Tagespraxis der Wissenschaft bedenklich, \glqq Semantics\grqq, \glqq Semiosis\grqq, \glqq Semiotic\grqq\ldots\ Ich kann nur sagen, daß ich schon Schwierigkeiten habe, die Termini COSMOGONY und COSMOLOGY systematisch anzuwenden. Wie schön wäre es, wenn man etwas verschiedenere Definitionen und noch verschiedenere Termini hätte. \neueseite{} Die meisten Menschen wissen sich schon nicht Rat mit Logic, Metalogic, Metalanguage, Semantics etc. Nun glaube ich beinahe, daß MORRIS und TARSKI verschiedene Terminologie haben usw. Ich fürchte, daß zu viel Terminologie in einem so wenig entwickelten Gebiet nicht klärend wirkt. Ich würde meinen, daß PROBLEMGRUPPEN angedeutet wichtiger ist -- in diesem Moment -- als terminologische Klassifikation von Disziplinen, auch wenn das später sich als nützlich erweisen sollte. Aber ich würde den Entschluß des verantwortlichen Mitarbeiters hinnehmen, diese Bedenken nicht so wichtig zu nehmen. Ich glaube auch nicht, daß so besonders viel Änderungen nötig sind, es geht mehr um vorsichtigere Formulierung, etwa Erwähnung der Terminologie als eines Vorschlags, nicht zu harte Durchführung, möglichst lockere Gestaltung. Ein wenig Mosaik[--]Impression noch übrig lassen, die Linien sozusagen als Verdeutlichung der \glqq features\grqq\ des Mosaik. Meine Hauptbitte geht dahin, auf das gezeichnete SCHEMA\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{von Morris}}.} zu verzichten. Wir\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Ich verzichte auch auf mein Schema}}.} wollen für Bd. III, zu einem MORRIS Artikel ein sorgsam durchdiskutiertes wunderbar entwerfen. Ich habe ja verzichtet, in den ersten zwei Bänden Schemata zu bringen, weil dazu etwas mehr Kontakt nötig ist, da ja die Schemata nach einer Grundidee zu machen wären. Wenn man das MORRIS-Schema ansieht, ist es nicht ganz klar, weil sozusagen \glqq SATZGRUPPENSCHEMA\grqq\ und \glqq GEGENSTANDSSCHEMA\grqq{} gemischt sind. SIGN-VEHICLES ist ein Wort. Wenn wir \glqq visualisieren\grqq, muß das \glqq gezeigt\grqq\ werden, das heißt man müßte mehrere Tripel hinzeichnen. SIGN-VEHICLE, DESIGNATUM sind brave Dinge, aber was ist INTERPRETATION BY INTERPRETER? Könnte man nicht einen INTERPRETING INTERPRETER daraus machen! usw. Also z.\,B. \bigskip \includegraphicscn[width=8cm]{Kugeln.jpg}{} \bigskip \noindent Wenn SCHWARZ Sign-Vehicles sind, WEISS etwa DESIGNATUM bedeuten und PUNKTIERT etwa INTERPR\editor{ETER}[:] Dann haben wir jeweils die Beziehungen, in denen ein bestimmtes SIGN-VEHICLE vorkommt: SCHWARZ-SCHWARZ (Syntactics), SCHWARZ-WEISS (Semantics), SCHWARZ-PUNKTIERT (Pragmatics). Es liegt nahe zu fragen, ob es nicht Termini für andere Beziehungen gibt, z.\,B. Design\editor{atum}[-]Interpr\editor{eter} oder Interpr\editor{eter} zu Interpr\editor{eter} usw. usw. Nun kommt eine Tafel der SÄTZE, wie das CARNAP zu machen pflegt. Aber ich hätte Bedenken, die Relationstafel mit der Sätzeübersicht zu mengen. Ich bitte sehr, auf die Zeichnung zu verzichten, die mehr festlegt als ein Text. \grussformel{[Otto Neurath]} } \ebericht{Brief, Dsl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846727}{RC 102-54-55}; Briefkopf: gedr. \original{International Institute for the Unity of Science} mit näheren Angaben, msl. \original{14.II.38}; ohne Signatur.}