\brief[Carnap an Neurath, Chicago, 27.~Januar 1938]% {Rudolf Carnap an Otto Neurath, 27. Januar 1938}{Januar 1938} \anrede{Lieber Neurath,} \haupttext{\cutcn{besten Dank für die Briefe vom 10. und 11.~Januar. Inzwischen habe ich Dir am 21.~Januar einen ausführlichen Brief geschrieben und am 23. Dein Ms. zurückgeschickt und mein Ms. gesandt. Ich erbitte meines mit Deinen Bemerkungen zurück. Inzwischen habe ich auch eingehend mit Morris über sein Ms. gesprochen. Ich bin ebenso wie Du nicht restlos befriedigt, aber es ist schwer, durch eine Besprechung daran etwas zu ändern, denn die Dinge, die mir mißfallen, beruhen weniger auf Meinungsverschiedenheiten, die man durch eine Besprechung versuchen könnte zu überwinden, als darauf, daß mir verschiedene Ausführungen nicht klar genug zu sein scheinen. Das liegt aber wohl einfach darin, daß er selbst sich über diese Fragen nicht klar genug ist. Dann habe ich auch mit ihm über den Punkt gesprochen, der Dir besonders am Herzen liegt, nämlich die Gefahr der Übersystematisierung, also das, was Du Architektur nennst. Er will dies in verschiedenen Punkten etwas abschwächen. Ferner habe ich verschiedene terminologische Fragen mit ihm besprochen und ihm deutlich erklärt, in welche Richtung Deine Kritik zielt, soweit es mir klar ist. Beiliegend Durchschlag eines Briefes an Dr. Arne N\ae{}ss -- erbitte ihn zurück.} Daß ich diesen Sommer nicht nach Europa kommen will, hat hauptsächlich zwei Gründe: Erstens ist es des Geldes wegen; besonders bei dem unglücklichen Datum des Londoner Kongresses\fnSE{In Cambridge fand im Juli 1938 der \textit{Vierte Internationale Kongreß für Einheit der Wissenschaft} statt; vgl. Stadler, \textit{Studien zum Wiener Kreis}, 425--429, bzw. \textit{Erkenntnis} 7, 1937/38, 135--392.} müßte ich erst nach Mitteleuropa fahren, dann nach England, dann wieder zurück nach Mitteleuropa. Das sind zwar keine sehr großen Entfernungen, aber teure Fahrten, wie Du weißt. Aber das eigentlich Kostspielige ist natürlich die Überfahrt von Amerika. Der zweite, vielleicht noch wichtigere Grund ist der, daß ich diesen Sommer verschiedene dringende Arbeiten erledigen muß. Da ist erstens \uline{das Heft 3 der Enzyklopädie}.\fnEE{Carnap, \textit{Foundations of Logic and Mathematics}.} Wie ich Dir schon im Herbst sagte, wird es mir nicht möglich sein, vor den Sommerferien auch nur anzufangen es niederzuschreiben. Da ich aber mit Dir der Meinung bin, daß es wichtig ist, daß dieses Heft bald erscheint, so will ich unbedingt in den Sommerferien sofort daran gehen. Ferner habe ich das zum Teil schon niedergeschriebene Ms. der neuen Auflage meines \glqq Abrisses der Logistik\grqq\ fertig zu stellen, das ich Springer schon für 1937 versprochen hatte.\fnEE{\labelcn{1938-01-27-Carnap-an-Neurath-SymbolischeLogik}Die seit Mitte der 1930er-Jahre entwickelte Neubearbeitung von Carnap, \textit{Abriß der Logistik}, erschien erst 1954 als Carnap, \textit{Einführung in die symbolische Logik}, eine englische Übersetzung davon erst 1958. Vgl. Buldt, ,,Introduction to Symbolic Logic``.} Es ist mir wichtig, daß \neueseite{} dieses Buch bald fertig wird, weil dann bald darauf die englische Übersetzung davon erscheinen soll, die ich für meinen Unterricht brauche. Nach meinen Erfahrungen bei meiner vorigjährigen Europareise ist es eine Illusion, wenn man denkt, auf einer solchen Reise wirklich längere Zeit gründlich arbeiten zu können. Um nun diese Arbeiten wirklich machen zu können, muß ich in Amerika bleiben. Wir werden wahrscheinlich nach dem Westen in die Berge gehen und uns in irgend einen ruhigen Ort hinsetzen. Zum Kongreß 1939 werde ich natürlich kommen. Es ist doch nicht so schlimm, wenn ich zwischendurch einmal einen Kongreß versäume. Überhaupt bin ich der Meinung, daß die Arbeiten an meinen eigenen Untersuchungen und die Veröffentlichung von Aufsätzen und Büchern, auf lange Sicht gesehen, weit wichtiger ist als meine Teilnahme an Kongressen und die Abhaltung von Vorträgen. Ich glaube, Du überschätzt das letztere etwas. Es hat natürlich einen gewissen Wert für die augenblickliche Verbreitung unserer Ideen. Aber wenn die Vorbereitung von Vorträgen einem sehr viel Zeit wegnimmt, wie das bei mir der Fall ist, so muß man, glaube ich, damit doch sparsamer sein. \cutcn{\uline{Woodger} ist bei Hull; wird März oder April herkommen. Er hat mir geschrieben, daß er sehr ernste Bedenken hat, ob es wirklich das richtige ist, wenn sein System ein ganzes Heft des ersten Bandes der Enzykl\ekl{opädie} einnimmt. Ich glaube, er hat da recht. In Übereinstimmung mit den Bemerkungen über die axiomatischen Methode in einem Deiner letzten Briefe bin ich auch der Meinung, daß die Arbeit von Woodger auf eine sehr hohe Entwicklungsstufe gehört und daß diese Durchführung in logistisch\ekl{en} Symbolen vielleicht besser ihren Platz in einem späteren Band der \glqq Erkenntnis\grqq\ findet und vielleicht auch da nur in kürzerer Form, d.\,h. in weniger als 70 Seiten. W\ekl{oodger} fragt, ob er nicht die Hauptzüge seines Systems auf kürzerem Raum darstellen soll, vielleicht in einem Teil des von Mainx geschriebenen Heftes. Mir scheint, das wäre ein ganz guter Gedanke. Für das dadurch frei werdende Heft wird sich sicherlich noch ein anderes Thema finden. Wenn nicht, so könnten wir daran denken, von Woodger in Zusammenarbeit mit anderen ein Heft über die Anwendung der axiomatischen Methode schreiben zu lassen. Da könnte vielleicht Tarski oder ein anderer Logiker, schlimmstenfalls auch ich selbst, über die Anwendung in Geometrie und ähnlichen Gebieten schreiben, dann jemand über die Anwendung in der Physik und schließlich Woodger über die Anwendung in Biologie und Psychologie. Mit der Logisierung der Psychologie ist er jetzt gerade beschäftigt, wie er mir schreibt. Besten Dank für den Sonderdruck aus \glqq Scientia\grqq. Könntest Du vielleicht einen solchen Sonderdruck zusammen mit einem Prospekt der Enzyklopädie an Franz Roh schicken? Er sagte mir im Sommer, \neueseite{}\zzz daß er größeres Interesse für den Plan der Enzykl\ekl{opädie} hat und bat mich, ihm Material darüber zu schicken. Die gewünschte Inhaltsangabe von meinem Heft 3 werde ich bald schreiben. Beiliegend Brief von \uline{Malisoff}. Seine Vorschläge sind natürlich kaum annehmbar für uns, da wir vermutlich in zu große Abhängigkeit geraten würden. Was ich meinte, war auch nicht unsere Eingliederung, wie er sie auffaßt, sondern eine Verschmelzung der beiden bisherigen Zeitschriften, sodaß wir den hauptsächlichen Einfluß in der Redaktion haben würden. Schreibe, was Du meinst, in welchem Sinn ich ihm antworten soll, vor allem, ob Du glaubst, daß hier noch eine Möglichkeit besteht, etwas in unserem Sinne zu erreichen. Ich meine, wir müßten dieser Möglichkeit doch weiter nachgehen für den Fall, daß unsere anderen Pläne nicht gelingen.} Auf Seite 2 des Briefes vom 10.\,I. sagst Du, daß Wissenschaftslogik keine Sonder-Disziplin mit eigenen Sätzen ist wie etwa die logische Syntax der Sprache. Heißt das, daß die Syntax eigene Sätze hat, die Wissenschaftslogik aber nicht? Wie soll das zu verstehen sein, da doch die Wissenschaftslogik entweder dasselbe ist wie die logische Syntax oder eine Kombination von Syntax und Semantik? Oder meinst Du: \glqq ebensowenig wie die logische Syntax\ekl{\grqq}? In diesem Falle würdest Du ja in vorzüglicher Übereinstimmung mit Deinem Freund Wittgenstein\IN{\wittgenstein} sein, was mich allerdings ein wenig überraschen würde. Meinst Du nicht, daß man die syntaktischen Sätze von den anderen Sätzen, etwa den Sätzen der empirischen Wissenschaften, unterscheiden kann, wenn sie natürlich auch unter gewissen Bedingungen in dieselbe Sprache eingeordnet werden können? Mit besten Grüßen} \grussformel{Dein\\Carnap}%\Apagebreak \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846752}{ON 221 (Dsl. RC 102-54-67)}, Briefkopf: gedr. \original{Rudolf Carnap\,/\,Department of Philosophy\,/\,University of Chicago} und \original{Chicago, Illinois}, msl. ergänzt durch \original{27.~Januar 1938}.}