Carnap an Neurath, Chicago, 27. Januar 1938 Rudolf Carnap an Otto Neurath, 27. Januar 1938 Januar 1938

Lieber Neurath‚

Daß ich diesen Sommer nicht nach Europa kommen will, hat hauptsächlich zwei Gründe: Erstens ist es des Geldes wegen; besonders bei dem unglücklichen Datum des Londoner Kongresses1In Cambridge fand im Juli 1938 der Vierte Internationale Kongreß für Einheit der Wissenschaft statt; vgl. Stadler, Studien zum Wiener Kreis, 425–429, bzw. Erkenntnis 7, 1937/38, 135–392. müßte ich erst nach Mitteleuropa fahren, dann nach England, dann wieder zurück nach Mitteleuropa. Das sind zwar keine sehr großen Entfernungen, aber teure Fahrten, wie Du weißt. Aber das eigentlich Kostspielige ist natürlich die Überfahrt von Amerika. Der zweite, vielleicht noch wichtigere Grund ist der, daß ich diesen Sommer verschiedene dringende Arbeiten erledigen muß. Da ist erstens das Heft 3 der Enzyklopädie. Wie ich Dir schon im Herbst sagte, wird es mir nicht möglich sein, vor den Sommerferien auch nur anzufangen es niederzuschreiben. Da ich aber mit Dir der Meinung bin, daß es wichtig ist, daß dieses Heft bald erscheint, so will ich unbedingt in den Sommerferien sofort daran gehen. Ferner habe ich das zum Teil schon niedergeschriebene Ms. der neuen Auflage meines „Abrisses der Logistik“fertig zu stellen, das ich Springer schon für 1937 versprochen hatte. Es ist mir wichtig, daß 🕮 dieses Buch bald fertig wird, weil dann bald darauf die englische Übersetzung davon erscheinen soll, die ich für meinen Unterricht brauche. Nach meinen Erfahrungen bei meiner vorigjährigen Europareise ist es eine Illusion, wenn man denkt, auf einer solchen Reise wirklich längere Zeit gründlich arbeiten zu können. Um nun diese Arbeiten wirklich machen zu können, muß ich in Amerika bleiben. Wir werden wahrscheinlich nach dem Westen in die Berge gehen und uns in irgend einen ruhigen Ort hinsetzen. Zum Kongreß 1939 werde ich natürlich kommen. Es ist doch nicht so schlimm, wenn ich zwischendurch einmal einen Kongreß versäume. Überhaupt bin ich der Meinung, daß die Arbeiten an meinen eigenen Untersuchungen und die Veröffentlichung von Aufsätzen und Büchern, auf lange Sicht gesehen, weit wichtiger ist als meine Teilnahme an Kongressen und die Abhaltung von Vorträgen. Ich glaube, Du überschätzt das letztere etwas. Es hat natürlich einen gewissen Wert für die augenblickliche Verbreitung unserer Ideen. Aber wenn die Vorbereitung von Vorträgen einem sehr viel Zeit wegnimmt, wie das bei mir der Fall ist, so muß man, glaube ich, damit doch sparsamer sein.

Auf Seite 2 des Briefes vom 10. I. sagst Du, daß Wissenschaftslogik keine Sonder-Disziplin mit eigenen Sätzen ist wie etwa die logische Syntax der Sprache. Heißt das, daß die Syntax eigene Sätze hat, die Wissenschaftslogik aber nicht? Wie soll das zu verstehen sein, da doch die Wissenschaftslogik entweder dasselbe ist wie die logische Syntax oder eine Kombination von Syntax und Semantik? Oder meinst Du: „ebensowenig wie die logische Syntax? In diesem Falle würdest Du ja in vorzüglicher Übereinstimmung mit Deinem Freund WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph sein, was mich allerdings ein wenig überraschen würde. Meinst Du nicht, daß man die syntaktischen Sätze von den anderen Sätzen, etwa den Sätzen der empirischen Wissenschaften, unterscheiden kann, wenn sie natürlich auch unter gewissen Bedingungen in dieselbe Sprache eingeordnet werden können?

Mit besten Grüßen

Dein
Carnap

Brief, msl., 3 Seiten, ON 221 (Dsl. RC 102-54-67), Briefkopf: gedr. Rudolf Carnap\,/\,Department of Philosophy\,/\,University of Chicago und Chicago, Illinois, msl. ergänzt durch 27. Januar 1938.


Processed with \(\mathsf{valep\TeX}\), Version 0.1, May 2024.