Rudolf Carnap an Otto Neurath, 21. Januar 1938 Januar 1938

Lieber Neurath‚

Die Aussicht, Dich vielleicht bald wieder hier zu sehen, ist sehr erfreulich, besonders, da ja die Enzyklopädie nun tatsächlich ins Stadium der Realisierung getreten ist und soviele Einzelheiten fortwährend besprochen werden müssen.

Enzyklopädie, Heft 1. Deinen Beitrag habe ich bekommen. Ich bin gespannt darauf, ihn zu lesen und will ihn Dir in Kürze, mit Randbemerkungen versehen, zurückschicken. Mein Beitrag ist nun endlich zum Abtippen gegangen. (Morris hat einen W Y A1Bezug bzw. Abkürzung unklar.-Mann für diesen Zweck zur Verfügung.) Ich werde Dir dann sofort eine Kopie schicken und erbitte sie mit Randbemerkungen und ausführlichen Anmerkungen zurück. Auf Grund Deiner Mitteilung hatte ich die Absicht, mich auf den Umfang von 15 Druckseiten zu beschränken und glaubte auch, das sei sehr reichlich für das, was ich zu schreiben vorhatte. Während des Schreibens merkte ich aber, daß da doch mehr gesagt werden muß, als ich vorher dachte. Das Ganze hat nun, nach meiner Schätzung, einen Umfang von ungefähr 19 Druckseiten. Ich glaube aber, wir sollten diesem Beitrag ruhig soviel Raum geben, da ja im gewissen Sinn dieser die theoretische Grundlage für manche der folgenden Hefte bildet. Ich stimme Dir zu, daß wir unter Umständen das erste Heft ruhig etwas größer machen sollten. Ich glaube, daß es beim einzelnen Verkauf der Hefte einen größeren Absatz finden wird, als die meisten anderen Hefte. Der Umstand, daß mehrere Autoren mitwirken, und darunter Leute, die nicht nur in unserer Bewegung, sondern allgemein bekannt sind, wie Dewey und Russell, trägt wesentlich dazu bei, das Heft anziehend zu machen.

Zum Titel des Heftes: Die Worte „Encyclopedic Integration“gefallenagefällt mir nicht gut. Sie sind ihrer Bedeutung nach nicht sehr klar und klingen auch nicht schön. Wie wäre es mit „Problems of the Unity of Science“oder „Unity of Science as Problem“oder „…as task“, oder „Unification of Science“, oder „Can Science be unified“?

Titelseiten: Deine Entwürfe finde ich im allgemeinen sehr gut, auch ästhetisch. Ich möchte nur für den Leser noch deutlicher den Unterschied zwischen diesen drei Dingen hervorheben: 1.) Die Enzyklopädie, 2.) zwei Bände „Foundations“als Teil davon, 3.) das einzelne Heft als Teil eines bestimmten Bandes. Daher möchte ich vorschlagen, daß auf den beiden Titelseiten eines einzelnen Heftes diese drei Dinge in der genannten Reihenfolge auftreten, also am besten so: Links oben: „Enzyklopädie…“, darunter:

„Volumes I and II: Foundations…„, rechts: oben: „Foundations…Volume I Number 5“, dann in besonders großer Schrift – Hefttitel und Autor. Also rechts nicht noch einmal „Enzyklopädie“, und sicherlich 🕮 nicht unten, weil das die Reihenfolge 2, 3, 1 ergeben würde. Ich habe einen entsprechenden Entwurf Morris gegeben zur Besprechung mit der Press und ich nehme an, daß er oder sie ihn Dir mit ihren eigenen Bemerkungen zuschicken werden.

Titel der Einzelhefte: Du hast recht, sie müssen von späteren Bandtitel[n] verschieden sein. Wie wäre es mit „Foundations of Physics“, „…of Biology“etc.?

Numerierung der Hefte: Da wir nun stark die Hoffnung hegen, weitere Bände herauszubringen, so sollten wir mit Rücksicht darauf unbedingt die Hefte in jedem der jetzigen beiden Bände gesondert numerieren. Also nicht „Band II, Heft 16“, sondern „Band II, Heft 6“. Für Zitierungen im Text sollten wir hierfür eine einheitliche Abkürzung einführen, z. B. „Enc. II 6“oder „Enzycl. II 6“.

Seitentitel: Bei einem Autor – links:

Enc. II 3: DEWEY, Axiology

rechts: kurze Andeutungen des Inhaltes der beiden Seiten.

Bei mehreren Autoren, links

Enc. I 1: the Unity of Science.

rechts: NEURATH, Encyclop. Integration

Morris’ Heft: ich werde mit Morris hauptsächlich über die Terminologie mich verständigen, damit wir beide möglichst dieselben Termini verwenden. Ferner wollen wir die von Dir angedeuteten Punkte zum Inhalt des Heftes erörtern. Gegen einige der von Dir angedeuteten Termini oder Inhaltspunkte habe auch ich Bedenken. Ich glaube aber nicht, daß es irgendwie problematisch oder gefährlich ist, wenn „der Gegenstand Zeichen mit dem Gegenstand Nicht-Zeichen gemeinsam auf der Bildfläche erscheint“. Den Terminus „Psychology“ würde auch ich dem Terminus „Behavoristics“vorziehen. Erstens ist er deutlicher und üblicher, zweitens klingt der zweite recht schlecht und ist vielleicht auch zu eng (vergleiche in meinem Ms. die Bemerkungen über die Methoden der Psychologie, von denen die behavioristische nur eine ist, wenn auch gegenwärtig die wichtigste, nämlich so lange, bis die Nerven-Physiologie in einem reiferen Entwicklungszustand sein wird). Die Tatsache, daß manche Theorien und vielfach die Formulierungen des Psychologen nicht unseren methodologischen Grundsätzen entsprechen, ist, glaube ich, kein hinreichender Grund dafür, das übliche Wort „Psychologie“abzuschaffen. Auch den philosophischen Leib-Seele-Dualismus können wir meiner Meinung nach ganz unberücksichtigt lassen, da ja 🕮 doch wohl gegenwärtig schon viele der führenden Psychologen frei davon sind.

Der Plan Deines Buches über „Unified Science“ ist anziehend und vielversprechend. Du wirfst dabei die Frage der Axiomatisierung in der Physik auf. Wenn das im engeren Sinne der Verwendung logischer Symbole, wie z. B. bei Woodger, gemeint ist, so ist das natürlich Aufgabe eines relativ späteren Stadiums. Wenn es aber im allgemeinen Sinn verstanden wird, als Aufzählung der jeweils in einem bestimmten Gebiete verwendeten Voraussetzungen, so scheint mir das doch eine wichtige Aufgabe in allen systematisch schon einigermaßen entwickelten Gebieten, also sicherlich in Physik und Biologie. Auch in der Psychologie und in den Sozialwissenschaften kann und sollte diese Aufgabe jetzt schon wenigstens in Angriff genommen werden.

Ich habe unverbindlich bei Malisoff angefragt, wie er und sein Verleger sich zu der Möglichkeit einer Verschmelzung der beiden Zeitschriften stellen würde[n]. Auch Weaver (Rockefeller Foundation) regte in einem Briefe an mich an, diese Möglichkeit in Erwägung zu ziehen.

Über Reichenbach weiß ich keine Einzelheiten. Es ist aber wohl als ziemlich sicher anzunehmen, daß er im Sommer oder Herbst herüberkommt.

Frank hat seine amerikanische Vortragsreise auf Oktober verschoben. Schreib mir bitte Näheres darüber, wieso Heyting findet, daß man (wer?) ihn schlecht behandelt hat. Ist er nicht zu den Kongressen eingeladen worden? Ich selbst habe vor etwa zwei Jahren eine sehr günstige Rezension über sein Buch in der „Erkenntnis“geschrieben; Gödel und Tarski fanden sogar, daß das Buch nicht ganz mein günstiges Urteil verdiene.

Mit herzlichen Grüßen

Dein
Carnap

Brief, msl., 3 Seiten, ON 221 (Dsl. RC 102-54-69), Briefkopf: gedr. Rudolf Carnap\,/\,Department of Philosophy\,/\,University of Chicago und Chicago, Illinois, msl. ergänzt durch 21. Januar 1938.


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