\brief{Rudolf Carnap an Otto Neurath, 15. Juli 1937}{Juli 1937} \anrede{Lieber Neurath!} \haupttext{ Vorgestern sind wir hergekommen und ich habe zahlreiche Briefe von Dir hier vorgefunden, die Hempel aus Vorsicht nicht nach Deutschl\editor{an}d nachgeschickt hat, viele davon waren noch nach Chicago adressiert (ab 26. Mai). Ferner habe ich gestern Deinen Brief mit Deinen Noten für die Pariser Diskussion bekommen. \uline{Zur Enzyklopädie}. Mit allen Vorschlägen einverstanden, insbesondere: ich will \glqq Wissenschaftslogik\grqq\ auf 20 Seiten schreiben für Heft 1 (Du 30, Morris 20); acceptiere Aufnahme in \glqq Board of Directors[\grqq]. -- Zum Jahresbeitrag \$ 20: ist das wirklich noch weiter nötig? Soll die Fortsetzung nicht lieber aufgeschoben werden, bis besichert ist, daß mehr als 2 Bde. erscheinen werden? Zu \uline{Reichenbach -- Enzykl\editor{opädie}}. Ich bedaure sehr, daß durch R\editor{eichenbach}s eigensinnige Haltung seine Mitarbeit verhindert wird. Nach sorgfältigem Studium des ganzen Ganges der Verhandlungen zwischen Euch, in dem Bemühen, als unparteiischer Dritter zu urteilen, komme ich zu folgendem Urteil: 1) in der Sache selbst hast Du das Prinzip, daß die ersten beiden Bde. nur solche allg[emeinen] Darlegungen enthalten sollen, in denen im großen u. ganzen Einigkeit in unsrer gesamten Gruppe besteht, konsequent u. korrekt vertreten. Das Prinzip war von Dir, Morris u. mir beschlossen und, so viel ich weiß, vom Enzykl[opädie]-Komitee\fnA{\original{Kommittee}} gebilligt. R\editor{eichen}b\editor{ach} hat, trotz aller Deiner Bereitwilligkeit zu irgend einem vernünftigen Kompromiß, sich dieser gemeinsamen Grundlage nicht fügen wollen. Er ist somit allein verantwortlich für das Ergebnis, seine Nicht-Mitarbeit. Falls es in einer Sitzung des Enzykl\editor{opädie}-Komm\editor{itees} zu einer Besprechung dieser Angelegenheit kommen sollte, werde ich erstens das genannte Prinzip weiterhin verteidigen, und zweitens meinen Eindruck dahin formulieren, daß Du das Prinzip in den Verhandlungen mit R\editor{eichenbach} in vollkommen richtiger Weise vertreten hast. 2) Es kommt vor, daß jemand, der sachlich im Recht ist, sein Recht in unfreundlicher oder sogar unkorrekter Form vertritt. Es scheint mir deshalb nicht überflüssig, zweitens noch zu betonen, daß man Dir bezeugen muß, daß Du in den oft schwierigen Situationen immer eine menschlich erfreuliche Haltung bewahrt hast, auf schroffe Ablehnung mit zuweilen kränkender Formulierung immer in freundlichem und verständigungsbereitem Ton erwidert hast. In Anbetracht Deines bekannten Temperamentes ist die Geduld, die Du der Sache zuliebe aufgebracht hast, geradezu rührend. Übrigens hat Hempel, der die ganze Korrespondenz gelesen hat, genau denselben Eindruck. Trotz der definitiven Form, die R\editor{eichenbach} seiner Ablehnung gegeben hat, wäre ich bereit, in Paris die Sache nochmal mit ihm zu besprechen, ev\editor{en}t\editor{uell} zusammen mit Frank. Oder hältst Du das für aussichtslos? Wir können das ja in Brüssel überlegen. Zu Deinem Protest vom 12. Juli. Es war entschieden nicht in der Ordnung, daß R\editor{eichenbach} als Herausgeber einen vom Kongreß-Sekretariat \neueseite{} eingeschickten Ankündigungstext eigenmächtig ändert. In \uline{Brüssel} werde ich am 27. Juli sein. Da könnten wir also eine Besprechung mit Frank machen. Wir hatten jetzt 2 schöne Tage mit Franks in Weimar. Nach dem Haag käme ich gern; es wird aber nicht mehr möglich sein, die Zeit ist zu kurz. Ich habe noch allerhand zu arbeiten vor, hier oben. \uline{Konferenz Paris}. In der Eröffnungssitzung 28. möchte ich nicht sprechen. Dagegen an der Enzykl\editor{opädie}-Diskussion teilnehmen. Ich weiß aber nicht, ob ich noch dazu komme, etwas Zusammenhängendes vorzubereiten, ich habe jetzt nichts Besonderes zu bringen. Ich denke, ich werde einfach bei passenden Gelegenheiten eingreifen. Symbolik-Vorsitz möchte ich doch lieber abgeben. Wir wollen in Brüssel darüber sprechen. Wer von den Polen kommt? Wer von den sonstigen Freunden? Neider? Stebbing? Jørgensen? Kaila? Woodger? Kannst Du Liste schicken, damit wir die Auswahl für die Privatsitzungen überlegen können? Über \glqq \uline{Erkenntnis}\grqq\ hab ich nur Andeutungen von Meiner; ich hoffe von \hbox{R\editor{ei"-chen}b\editor{ach}} Näheres zu erfahren. Meiner kommt viell\editor{eicht} selbst nach Paris. Konferenzbericht: Wird es genug Stoff geben, der der Veröffentlichung Wert ist? Wenn ja, bin ich mit Erscheinen in Erk\editor{enntnis} einverstanden. R\editor{eichen}b\editor{ach} schreibt jedoch, sie werde nicht weiter erscheinen. Er ist dabei, neuen Verleger in Paris oder London zu finden, möchte dann auch Stebbing u. Rougier in die Redaktion aufnehmen. Morris hatte damals schon Übertragung nach Amerika erwogen. Was hältst Du für besser? R\editor{eichen}b\editor{ach} schreibt, man müsse sehr vorsichtig an Meiner schreiben, er habe furchtbare Angst. Ich hatte M\editor{einer} noch in Deutschl\editor{an}d um nähere Auskunft gebeten, dort aber keine mehr bekommen. Wir waren so froh, zu hören, daß es Olga schon besser geht. Bitte auch weiteren Bericht über ihr Ergehen. Und sag ihr herzliche Grüße und Besserungswünsche von uns beiden. Das Zusammensein mit Hempels ist sehr erfreulich. Wissenschaft und Lebensprobleme werden besprochen. Ich glaube, das Leben in Chicago wird noch viel erfreulicher werden, wenn wir sie auch drüben haben werden. } Mit herzlichen Grüßen, auch an Mieze, \grussformel{Dein\\Carnap} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846250}{ON 221 (Dsl. RC 102-51-34)}; Briefkopf: gedr. \original{Rudolf Carnap\,/\,Department of Philosophy\,/\,University of Chicago} und \original{Chicago, Illinois}, msl. \original{Daverdisse sur Lesse, 15.~Juli 1937}.}