Otto Neurath an Rudolf Carnap, 24. Juni 1937 Juni 1937

Lieber Carnap!

Ich will Dir nicht den langen Roman mit Rougier erzählen, der ganz aufgeregt war, daß überhaupt der Name III. Kongreß auftauchte. Ich habe ohne jedes Zögern den Namen Konferenz verwendet, als ich sah, daß es ROUGIER unangenehm ist. Aber seine gallische Erregbarkeit wird sich wieder sänftigen und es wird alles hoffentlich nett werden.

Leider war die Sache mit REICHENBACH nicht in Ordnung zu bringen. Ich lege dir bei: meinen Bericht an JØRGENSEN als Mitglied des Enzyklopädiekomitees, dazu die Hauptbriefe, die mit Reichenbach gewechselt wurden. Er bestand absolut darauf, daß er das ex offo behandeln dürfe, was Du und FRANK und ich als bedenklich ansehn. Natürlich könnte er im Rahmen einer umfassenden Übersicht über die LOGICAL ANALYSIS OF PHYSICS auch über seine Anschauung neben anderen nebenbei sprechen und erwähnen, daß er darüber eine besondere Darstellung in der Enzyklopädie geben werde. Er ist auf meinen Appell an die GEMEINSAMKEIT überhaupt nicht eingegangen. Leider liegt das auf der Linie, die uns ja in USA aufgefallen ist. Er distanziert sich nicht ungern von uns. Schade, sehr schade. Denn so was nützt keiner Bewegung und nicht der Wissenschaft. Andererseits kann man doch nicht REICHENBACH das zubilligen, was niemand anderer verlangt hat. Wenn wir die speziell REICHENBACHSCHE Auffassung zugespitzt vortragen lassen, müssen wir in den ersten 20 Heften auch MISES usw. sprechen lassen…Aber über all das sind wir ja einig. Ich bedauere das alles sehr.

REICHENBACH scheint eine Stütze in ROUGIER gefunden zu haben, der mir schrieb, er verstehe vollständig REICHENBACHS Empörung usw. Er schrieb mir immer: „Ihre Enzyklopädie“usw., als ob ich da eine private Sache betriebe, während mir doch wirklich die Gemeinschaft unserer Arbeit am Herzen liegt. Ich werde sicherlich alles weglassen, was unter uns Zwiespalt stiften könnte.

Natürlich wird der Bericht über die Konferenz gedruckt, wenn auch vielleicht in kleinem Umfang, und an die Mitglieder verteilt werden. Wenn die Kongreßmittel nicht ausreichen, zahlt die Differenz das Institut. Es kann sich nicht um viel handeln. Ich möchte zunächst von REICHENBACH und Dir erfahren, ob die Konferenz nicht in der ERKENNTNIS erscheinen kann, sonst muß man sie eben anderswo unterbringen.

HERMANN & CIE sind geradezu schrecklich. Aber NEIDER bestätigt mir, daß das nicht ungewöhnlich ist. Man bekommt eben keine Antwort. Ich benötigte zwei eingeschriebene Briefe, um gegen BEZAHLUNG 3 Exemplare der Kongreßakte zu bekommen.

Ich fände es schön, wenn Du etwas über SCHLICK sagen wolltest.aKsl. (nein). FRANK sprach ja schon in KOPENHAGEN, sonst ist niemand da.

BITTE BEHALTE DEN VORSITZ IM KOMITEE FÜR SYMBOLISCHE LOGIK. Es kann sich ja Hempel oder Helmer darum als Deine Hilfe kümmern. Ich würde, so wie heute die Weltlage ist, nichts nach Mitteleuropa verlegen. Du weiß doch, wie wenig SCHOLZ zu unserer Bewegung gehört. Er wird ohnehin mit seinen jungen Leuten alles mögliche machen. Aber jetzt, wo immer mehr Menschen Deutschland verlassen, möchte ich meinen, soll man die Position in der angelsächsischen Welt nicht aufgeben. Da wäre es besser, mit BERNAYS oder sonst wem zu reden. Bitte tu nichts, ohne mich und die anderen Freunde vorher sorgsam befragt zu haben. 🕮

Der ENZYKLOPÄDIEPROSPEKT ist im Druck. Ich lege Dir die Liste der 20 Hefte bei. Da am 23. Juni mit dem Druck begonnen wurde, konnte ich noch gerade per Telegramm die Zustimmung von DUBISLAV einholen, PROBLEMS OF EMPIRICISM zu übernehmen – ein verwaschener Titel, den wir ändern können. Wir bekommen so die Brücke von ROUGIER zu JØRGENSEN.

Erst dachte ich, daß DUBISLAV mit HEMPEL das von REICHENBACH abgelehnte Thema machen könnte. Da ergaben sich zwei Bedenken:

1. Wenn die beiden das machen, würde REICHENBACH (und das wäre verständlich) ihnen ewig zürnen. Daß sie das machten, was er ablehnte.

2. Ich finde, daß eine Sache über Physik doch Physiker machen sollen. Das entspricht so im ganzen unserer Tendenz.

Ich möchte nun sehr gern, daß HEMPEL schon innerhalb der ersten 20 Hefte dran kommt. Ich habe FRANK gefragt, ob nicht Hempel mit Dubislav dies Heft machen könnte. Ich weiß nicht, wie Hempel und Dubislav zueinander stehen. Ich warte ab, ehe ich HEMPEL was sage, bis ich Dubislavs Antwort habe.

In PARIS wird am 29. die Diskussion durch BRUNSWIK eingeleitet werden, am 31. durch ENRIQUES, der sehr nett schreibt. BRUNSWIK ist sehr intensiv bemüht, mit uns in Kontakt zu kommen, was ich erfreulich finde. Wir müssen einen Haus-Psychologen haben. Er ist eine gute Brücke zu Tolman und durch Næss wird er ja auch wieder etwas kontrolliert. Ich bin sehr froh, daß die ENZYKLOPÄDIESACHE so rasch vonstatten gegangen ist.

Du darfst nicht aufaan Heft I vergessen:

Carnap kurz: LOGIC OF SCIENCE. !!!

FRANK möchte mit Dir, Hempel und mir in BRÜSSEL zusammenkommen. Er dachte erst nach dem Haag zu kommen. Das sieht aber jetzt nicht gut aus. Olga ist zur Beobachtung auf der Klinik mit einer Geschwulst an der rechten Seite. Ich sprach eben mit dem Arzt. Es ist sehr schwierig, eine Diagnose zu stellen, fast mit absoluter Sicherheit wird das Schlimmste, ein Darmkarzinom, ausgeschlossen – aber es kann sich um eine Nierensache handeln, was in vieler Richtung weniger arg ist – aber alles ist arg. Und man sitzt hilflos da. Glücklicherweise haben wir durch Freunde einen ausgezeichneten Hausarzt und den besten Chirurgen bekommen. Mein Einkommen gestattet gerade noch, daß wir die Klinik bezahlen können, so daß sie in der besonders gut ausgestatteten, neu gebauten Diakonissen-Anstalt liegt. Sehr nette Schwestern. Peterl fühlt sich subjektiv nicht schlecht, hat keine besonderen Schmerzen. Es wird ständig untersucht, Röntgenaufnahmen gemacht usw. Die Krebsfurcht ist so schlimm, daß alles andere einem schon wie eine Erlösung vorkommt…

Herzliche Grüße an Euch beide

Otto Neurath

Brief, msl., 2 Seiten, RC 102-51-37 (Dsl. ON 221); Briefkopf: gedr. International Institute for the Unity of Science mit näheren Angaben, msl. 24. Juni 1937, ksl. bekommen 12.7., ganz oben ksl. 12.7. bei Hempel vorgefunden: 8 Briefe von Neurath, mit insgesamt 38 Seiten.


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