\brief{Otto Neurath an Rudolf Carnap und Charles W. Morris, 2. Juni 1937}{Juni 1937} \anrede{Lieber Carnap, lieber Morris!} \haupttext{ Diesen Brief bekommt Ihr als \glqq ASSOCIATE EDITORS\grqq\ der Enzyklopädie. Es folgt anbei der nette Brief eines Amerikaners über unsere Enzyklopädie.\fnE{Sebastian B. Littauer an Otto Neurath, 21.~Mai 1937, RC 102-51-48.} Vielleicht ist er sogar als Propaganda verwendbar, jedenfalls wird er die PRESS als Stimme aus dem Publikum interessieren. Ich hab mich jedenfalls sehr gefreut. Zufällig bekam ich heute einen ähnlich netten Brief von einem Amerikaner über VISUAL EDUCATION. Die zweite Beilage bezieht sich auf folgendes: Ich hatte mit ROUGIER eine langstielige Korrespondenz über die Art, wie unser kleiner Kongreß in Paris aufgezogen werden solle. Es ergab sich, daß er das Ehrenwort der Leitung des DESCARTES-KONGRESS gegeben habe, wir würden auf unseren Kongreß verzichten. Das wußte ich vorher nicht, sondern nur, daß wir eine so kleine Tagung machen sollten, daß wir keine KONKURRENZ machten (aus Rougiers Andeutungen glaubte ich zu entnehmen, wir würden auf dem DESCARTES-KONGRESS eine geschlossene Gruppe bilden, so wie das CARNAP so fein in PRAG gemacht hatte). Es war ganz gut, daß wir dem Kongreß über die Enzyklopädie berichten konnten und daß überdies das Komitee des Kongresses über Vereinheitlichung der Symbolik zusammentreten konnte. Schließlich einigten wir uns, da in der Erkenntnis schon der Terminus III. Kongreß stand, daß in Frankreich nur von VOBEREITENDE KONFERENZ BETREFFEND DIE INTERNATIONALE ENZYKLOPÄDIE DER EINHEITSWISSENSCHAFT gesprochen werden solle, während außerhalb Frankreich erwähnt werden könne, daß diese kleine Zusammenkunft den III. Kongreß bilde. Darüber ist ja an alle KOMITEEMITGLIEDER ein Rundschreiben gegangen. Nun kam REICHENBACH nach Paris. Und ohne daß mit mir vorher Rücksprache genommen worden wäre, hat er den an die Erkenntnis geschickten und bereits gedruckten Text durch einen neu redigierten ersetzt. Nun kenne ich ja REICHENBACHS intensive und lebhafte Art und weiß, daß ROUGIER durch so etwas beeinflußt wird -- so wars ja auch 1935 in PARIS -- und es ist an sich gleichgiltig unter welcher Marke wir in PARIS tagen, da es mir wichtig scheint, daß wir uns über die Enzyklopädie erfolgreich unterhalten, insbesondere über die Eingliederung von Psychologie und Biologie. Nicht sicher ist aber, ob die Wendung (die in keiner von uns ausgegebenen Mitteilung\fnA{\original{Mitteilungen}} vorkommt, weil sie den Fakten widerspricht) \glqq zwei vom Pariser Kongreß aufgestellte Komitees werden tagen\grqq\ nicht darauf abzielt, die ENZYKLOPÄDIE sozusagen unter die unmittelbare Hoheit des Kongresses zu stellen. (LES COMMISSIONS INTERNATIONALES CONSTITUEES AU CONGRES DE PHILOSOPHIE SCIENTIFIQUE, PARIS 1935\ldots) Daher schrieb ich zusammen mit andern an Rougier einen Brief, der die mitfolgende Passage enthält. Diese Wendung ist nicht ausgeschlossen, weil mir Rougier gleichzeitig mitteilt, daß REICHENBACH sehr unwillig darüber sei, daß er in der Enzyklopädie nicht das Heft WAHRSCHEINLICHKEIT bekommen habe. Ich schrieb ROUGIER, daß ich das alles sehr bedauere, und bin wie immer sehr zu einem Kompromiß bereit. Ich überlege, wie man das Thema LOGICAL ANALSIS OF PHYSICS so abgrenzen könne, daß es nicht unmittelbar alle Differenzen zur Sprache bringt, die doch besser den späteren Bänden aufbewahrt werden sollen. Aber REICHENBACH hat, seinem Temperament entsprechend, die Neigung, gerade über WAHRHEIT usw. natürlich INDUKTION usw. zu sprechen und es ist schwer zu erreichen, daß er mit FRANK sich einigt, nur die Dinge zu sagen, in denen wir alle einig sind und nur nebenbei eventuell zu erwähnen, was uns trennt. Ich werde sicherlich alles in meinen Texten tun, um innerhalb dieser 20 Hefte nicht meine Spezialmeinungen zu sehr zu betonen, etwa Protokollsätze usw. Ich hoffe \neueseite{} sehr, daß wir alles gut in Ordnung bringen, friedlich-schiedlich. Aber wir wissen ja, daß es nicht ausgeschlossen ist, daß REICHENBACH zu etwas mehr angreifender Art neigt. Es ist gut, die historischen Daten vor Augen zu haben, damit wir drei als Herausgeber nicht in unseren Angaben, auch der PRESS gegenüber, differieren, wenn wir etwa über diesen Konflikt berichten müssen, was, ich hoffe es sehr, nicht nötig sein wird, denn nichts schadet einer Bewegung mehr als Zwist dieser Art. \begin{enumerate} \item ENZYKLOPÄDIE-PROJEKT geht auf viele Jahre zurück, hatte vielerlei Formen. Ich habe es besonders mit FRANK schon frühzeitig besprochen. Auch mit CARNAP. Ich will im folgenden, weil ich die Papiere zur Hand habe und nicht zu viel Zeit aufwenden will, nur Zitate aus Briefen an MORRIS bringen, der immer größtes Interesse für die Sache zeigte. \item 21.II.35 \glqq Das ENZYKLOPÄDIEPROJEKT (Im Sinne der Einheit der Wissenschaft) werden wir von der UNITY OF SCIENCE SECTION unseres Instituts vorlegen\ldots\grqq\ \glqq Zu diesem Zweck soll ein eigenes Komitee innerhalb des Instituts gebildet werden, dem beizutreten ich Sie bitte\ldots\grqq\ \glqq \ldots\ Zwiebelsystem \ldots\ Ich lege Ihnen im Auszug die Statuten des MUNDANEUM INSTITUTE bei, dessen Vorstand Philipp Frank angehört \ldots\ Wir haben schon in Wien damit begonnen Bücher und Artikel von Mitgliedern unserer Bewegung zu sammeln\ldots\grqq 11.III.35 \glqq Sie bekommen bald unseren UNITY OF SCIENCE ENCYCLOPAEDIA Plan zugeschickt, den wir von unserem Institut aus unterfertigt von einem Komitee, in das ich Sie gebeten habe, einzutreten, vorlegen werden\ldots\grqq 2. Juli 1935 \glqq \ldots\ Wir wollen vom MUNDANEUM INSTITUTE aus jedenfalls in einzelnen Heften das Material zu publizieren beginnen. Wesentlich ist die Festlegung der Terminologie usw. JØRGENSEN hat seine Hilfe zugesagt.\grqq 27. Juli 1935 \glqq Vielleicht wissen Sie einen Verleger in USA, der hiefür in Frage kommt.\grqq 31. Juli 1935 \glqq Und schließlich \gesperrt{eigene} Arbeiten und Beiträge für die Enzyklopädie. Diese Arbeiten unterliegen natürlich wie alle Arbeiten anderer Mitarbeiter der Besprechung durch das Komitee des Mundaneums, das sich mit der Enzyklopädie beschäftigen wird.\grqq Es folgen viele Bemerkungen zur Enzyklopädie, die alle ganz klar zeigen, daß es sich um eine Enzyklopädie des MUNDANEUM INSTITUTE THE HAGUE handelt. \item Auf dem Pariser Kongreß: Referat Neurath: \glqq L’INSTITUTE MUNDANEUM DE LA HAYE, PREPARE UNE ENCYCLOPEDIE\ldots\grqq\ \glqq LE COMITÉ DE L’ENCYCLOPEDIE, A L’INSTITUTE MUNDANEUM DE LA HAYE, COMPOSE DE CARNAP, FRANK, JØRGENSEN, MORRIS, NEURATH ET ROUGIER\ldots\grqq\ (Siehe S. 1 und 6 von FASZIKEL II der Kongreßakte). Nach seinem ENZYKLOPÄDIEREFERAT hat MORRIS durchaus im Einklang mit allem oben angeführten den Antrag gestellt, der angenommen wurde: \glqq Resolved: That this Congress express its approval of the International Encyclopaedia of the Unity of Science sponsored by the Mundaneum Institute and its willingness to cooperate in the execution of this project\grqq . \item Im Anschluß daran Verhandlungen CARNAP, MORRIS, NEURATH mit der PRESS in Chicago. Die PRESS legt mir den Vertrag vor, den ich als EDITOR IN CHIEF zeichnen soll. Ich verlange Einfügung des Zusatzes, daß ich den Vertrag auf das MUNDANEUM INSTITUTE THE HAGUE übertragen kann. Um dem ORGANISATIONSKOMITEE DER ENZYKLOPÄDIE BEIM MUNDANEUM INSTITUTE THE HAGUE (Carnap, Frank, Jørgensen, Morris, Neurath, Rougier) mehr Autonomie zu sichern, wird im Vorstand des MUNDANEUM beschlossen, die Abteilung für Unity of Science mit dem Namen \glqq Institute\grqq\ zu versehen und eine eigene Budgetierung innerhalb des Mundaneums zu sichern und einen eigenen BOARD OF DIRECTORS aufzustellen. Wer vom Mundaneum[-]Komitee\fnA{\original{Comitee}} der ENZYKLOPÄDIE diesem BOARD beitreten will, ist dazu eingeladen. Als Arbeitsausschuß ist zunächst FRANK, MORRIS, NEURATH bestimmt worden. MORRIS hatte schon in Chicago sich bereits erklärt, eine solche Funktion anzunehmen. Ich habe an CARNAP und MORRIS die Bitte gerichtet, als ASSOCIATE EDITORS mitzuwirken, im übrigen besteht das ORGANISATIONSKOMITEE und ein ADVISORYCOMMITTEE. \neueseite \end{enumerate} \noindent Das ist, glaube ich, eine erschöpfende historische Übersicht. Da ich alles vermeide, um irgend welche Spannungen zu erhöhen und alles tun will, um friedliche Kooperation zu fördern, bitte ich, diese ganze Mitteilung nur als eine \glqq Aktennotiz\grqq\ zu betrachten. Ich hoffe, daß wie so manche andere Spannung auch diese vorübergeht. Im übrigen fühle ich beim Durchblättern all dieser alten Briefe, welche Arbeit wir alle zusammen leisten mußten, um diese Sache auf die Beine zu stellen. Ich begreife aber auch, daß, wenn jemand wie REICHENBACH wenig bereit ist sich einzufühlen, [er] nur schwer übersieht, wie kompliziert die Aufgabe ist, \gesperrt{harmonische} 20 Hefte zu machen. Der Prozeß gegen den Mörder SCHLICKS hat nicht dazu beigetragen, die Philosophie des Wiener Kreises zu verunglimpfen, sondern hat nur gewisse katholische Kreise, insbesonders einen katholischen Macher Herrn Prof. GABRIEL, den ich nicht kenne, in einem wenig erfreulichen Licht gezeigt. Letzterer scheint in sehr wenig erzengelhafter Weise den verbitterten Mörder, der sich in seiner Liebe enttäuscht sah und in übler finanzieller Lage war, noch weiter verbittert zu haben durch die Informationen, die er ihm gab. } Mit herzlichen Grüßen an Euch beide und Eure Familien \grussformel{wie immer Euer\\Otto Neurath} \ebericht{Brief, Dsl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846273}{RC 102-51-45 (weiterer Dsl. ON 221)}; Briefkopf: msl. \original{2.~Juni 1937}, ksl. \original{über Chicago und Brüssel, bekommen 12.7.}.}