\brief[Neurath an Carnap, Den Haag, 19.~Mai 1937]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 19. Mai 1937}{Mai 1937} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Draußen scheint die Sonne und zwitschern die Vögel, die Bürokatze schläft schnurrend auf dem Bürobalkon. Eben ist mein Englischlehrer weggegangen, der mir mit seinem Oxford Englisch helfen muß, ein \glqq American\grqq{} Buch-Englisch schreiben zu lernen, eifrig sieht er im Oxford Dictionary, ich in Webster’s Dictionary nach. Es werden langsam aber sicher zwei Sprachen draus werden. Ich habe mir schon ein Privatlexikon angelegt, das ich aus amerikanischen und englischen Artikeln beliefere. Besonders herrlich finde ich die englischen Worte, die ungefähr die österreichische politische Haltung des \glqq Fortwurschtelns\grqq\ wiedergeben -- es gibt deren viele.\fnEE{Vgl. die in den Briefen Neuraths aus den 1940er-Jahren (z.\,B. Brief~\refcn{muddlingthrough} und~\refcn{1942-12-22-Neurath-an-Carnap}) häufigen Verweise auf ,,muddling through`` als Merkmal der Demokratie.} Mehr als im Hochdeutschen. Wenn Du (oder Ina\IN{\ina}) mir gelegentlich Zeitungsausschnitte senden würdest, die mir nützen können, wäre das sehr lieb, vorausgesetzt, daß es keine besondere Mühe macht, sie zu sammeln und gelegentlich zu posten. Mich interessieren z.\,B. Ziffern, wie: wie viele Menschen inklusive Familien leben in einem Lande aus der Einkommensquelle \glqq Verbrechen\grqq . Die USA Ziffern sind recht hoch. Wie steht es mit der Selbstmordzunahme bei Entwicklung der Bildung in verschiedenen Ländern und Gegenden usw. Sehr wichtig alles, was auch in moderner Zeit vorkommt, z.\,B. Aberglauben aller Art. Ich werde z.\,B. sicher bringen, daß die schönen Wolkenkratzer in NEW YORK meist kein 13. Stockwerk haben usw. Mancherlei lerne ich aus Filmen. Vor kurzem sah ich eine schlechte, aber dadurch sehr charakteristische Umarbeitung des recht üblen Hauptmannschen \glqq Vor Sonnenuntergang\grqq .\fnEE{Vermutlich ,,Der Herrscher`` (Regie: Veit Harlan).} Da kam Gefolgschaft vor und dgl. Schwielige Faust drückte entschwielte Faust usw. Die Materialsammlung und Bearbeitung von LIFE OF MODERN MEN,\fnEE{Arbeitstitel für Neurath, \textit{Modern Man in the Making}.} die Überlegungen, wie mans gut illustriert, beschäftigen mich viel. Ich hoffe, es soll gut werden, in PARIS werde ich Euch beiden allerlei Interessantes daraus erzählen können. \cutcn{Von Behmann, dem eifrigen, ist schon eine Antwort da. Ich bin gespannt, was Scholz sagen wird. Ich nehme an, daß es Deinen Wünschen entspricht, wenn erst eine Generaldebatte,\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{\uline{Symbolik}}}.} dann Spezialdebatte angesetzt wird, so hasts Dus seinerzeit angeregt. Ich würde es sehr begrüßen, wenn Du kurz zur ENZYKLOPÄDIE sprechen würdest. Es werden nur Mitarbeiter der Enzyklopädie zunächst sich äußern. Es ist ja mehr eine Aussprache. Nur BRUNSWIK wird etwas mehr reden. Sehr wichtig, weil PSYCHOLOGIE und BIOLOGIE etc. die Schmerzenskinder sind, nicht so sehr wegen ihrer eigenen Schwierigkeiten, als wegen der Querverbindungen. Mit ROUGIER gab es eine etwas aufgeregte Korrespondenz, deren Sinn mir erst allmählich klar wurde. Er hat der Leitung des INTERNATIONALEN KONGRESSES offenbar sehr intensiv versprochen gehabt, daß wir auf eine eigene Veranstaltung verzichten und nur eine interne Tagung machen. Ich habe immer, seiner Anregung und unseren gemeinsamen Beschlüssen entsprechend, ein Minimalprogramm angesetzt, das in keiner Weise als Konkurrenz zum Internationalen Philosophenkongreß aufgefaßt werden könnte. Nun wurde er ganz aufgeregt, daß der NAME dritter Kongreß auftauchte. Nun haben wir einen Kompromiß geschlossen. In Frankreich heißts Vorbereitende Konferenz der Internationalen Enzyklopädie der Einheitswissenschaft, ohne Zusatz \glqq DRITTER KONGRESS\grqq\ -- sonst reduziere ich diese Terminologie, Rougier sagt er hat nichts dagegen, daß die Publikation unter dem Titel \glqq dritter Kongreß\grqq\ erscheint. Kurzum, die aufgeregte Korrespondenz endete wies Hornberger Schießen. Ich hätte nie für möglich gehalten, daß man in Frankreich so \glqq formalistisch\grqq\ sei, daß reine Namensänderungen genügen, während das Programm sein kann, wies mag. Wann kommt Ihr in PARIS an? Es wäre sehr nett, wenn man wieder zusammen im selben Hotel hauste. Man sieht einander leider auch \neueseite{}\zzz dann nur im Vorübergehen. Dazu kommt, daß ich mir pflichtgemäß die Ausstellung ansehn muß usw. Ich hoffe, wir werden diesmal mit der Gruppe der REVUE DE SYNTHÈSE etwas in Kontakt kommen. Ich schreib BOUVIER in diesem Sinne. Ich hoffe sehr, daß BOUVIER, der von Mach herzukommen scheint, irgendwie an späteren Bänden der Enzyklopädie mitarbeiten wird. Ich denke, wir sollten über die späteren Bände auch mal sprechen. Überleg Dir ein wenig die Dich interessierenden Gebiete. LOGIC OF SCIENCE, CLASSIFICATION OF SCIENCES etc. sind Themen, die wichtig sind.} Am Samstag sehe ich Hempels\IN{\hempel}\IN{\hempelfrau}. Bin sehr froh, daß er auf ein Jahr zu Dir kommt. Es ist so nett, wie Du für Hempel\IN{\hempel}, Helmer\IN{\helmer} und andere sorgst.\fnEE{Hempel und Helmer waren 1937 für ein Semester an der University of Chicago als Carnaps Assistenten tätig.} Wie ich höre, ist Popper\IN{\popper} im Pacific Gebiet, was vielleicht auch seiner Stimmung gut tun wird.\fnEE{Zu Poppers Zeit in Neuseeland vgl. Hacohen, \textit{Karl Popper}, Kapitel 8.} Er war schon so ungut geworden. Was ja sehr zu begreifen ist. Ich hätte nur vorgezogen, wenn er kollektiv mit uns andere angefallen hätte, statt sich mehr uns als Objekt seines Grolls auszusuchen. \cutcn{Korrespondenz aus aller Welt will erledigt werden. Viel hat sich während der Monate angesammelt, Neues kommt hinzu, jedes neue Land, das man persönlich kennen lernt, bedeutet neue Korrespondenz und meist auch -- erfreulicherweise -- neue Arbeit. (Es ist ganz interessant so von Mexiko dauernd zu hören. Eine unstabile Situation, immer wechseln die Chefs von Ämtern, niemand weiß, ob er vollendet, was er beginnt. Aber viel Leben. Es ist schade, daß ich Dich nach Mexiko nicht mehr sah.) All diese Arbeit läßt sich jetzt leichter erledigen, seit wir eine Holländerin als Hilfe haben, Nationalökonomin, die wir seit langem kennen. Das erleichtert jetzt alle Arbeit für die Enzyklopädie, für Kongresse usw. Das Rundschreiben mit den Vorschlägen für die SYMBOLKONFERENZ hat sie bereits verfertigt. Du siehst, ich habe ganz kleine Änderungen angebracht. Ich hoffe allmählich die Enzyklopädiearbeit systematisch zu organisieren. Für die nächsten Bände und auch schon für die Bibliographie wird das wichtig. Ich wäre Dir sehr dankbar, wenn Du mir Bücher- und Zeitschriftenartikel mit kurzer Angabe (wertvoll! Wichtig! usw.) zukommen ließest, die Dir unter die Hände kommen, ebenso Adressen von Leuten, die für uns wichtig sind. Wir haben schon eine schöne Adressenkartothek. Ich wäre Dir sehr dankbar, wenn Du mir schriebest, wie Du zu der Frage stehst, daß REICHENBACH über WAHRHEIT, WAHRSCHEINLICHKEIT usw. in den ersten beiden Bänden schreibt. Ich bin in einer sehr schlechten Situation. MORRIS, der sonst so vorsichtige, hat offenbar R\editor{eichenbach}, wenn auch unverbindlich, so geschrieben, daß ich nun diesen Plan von ihm habe und nun mit der Ablenkung, um nicht zu sagen Ablehnung behaftet bin. Ich möchte in keiner Weise die Bedeutung Reichenbachs schmälern, nicht seine Leistungen verkleinern, aber ich glaube, wie ich M\editor{orris} schrieb, daß es nicht gut ist, solche Überschneidungen zuzulassen und solche Konfliktstoffe anzusammeln. Denn daß man R\editor{eichenbach}, wie Frank meinte, durch das Komitee beeinflussen kann, bestimmte Thesen nicht zu vertreten, halte ich für schwerer, als jetzt das Thema anders zu formulieren. Ich werde nicht die kleinste Schwierigkeit machen, R\editor{eichenbach} in den späteren Bänden alle Möglichkeit zu geben, INDUKTIONSLOGIK, WAHRSCHEINLICHKEITSLOGIK und was er sonst will zu vertreten, das ist eben eine Richtung, und: \glqq jeder sein eigener Fußball\grqq . Es wird dann eine abweichende Meinung auch zu Wort kommen. Ich glaube, daß wir alle in den ersten Pamphleten gemeinsame \glqq Eirenik\grqq\ -- wenn der Terminus erlaubt ist -- betreiben sollen. R\editor{eichenbach} ist so gar nicht bereit zu uns zu gehören, aus irgend einer sonderbaren Haltung heraus scheint er nicht nur seine Positionen sehr ungehemmt zu vertreten, das tun manche von uns, sondern auch sich von uns ausdrücklich absondern zu wollen. Das soll uns nicht abhalten, ihn immer zur Mitarbeit einzuladen. Weiter\ekl{:} MORRIS fragte mich, weshalb ich finde, daß Dein Heft LOGICAL ANALYSIS OF SCIENCES \gesperrt{nicht} überdeckt hätte andere Artikel, wohl aber Reichenbachs Heft. Ich nehme an,\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{ja}}.} daß Du mit mir einig darüber bist, daß Du die für alle Wissenschaften wichtigen \gesperrt{logischen} Fragen behandelt hättest, in der Weise, wie Du über Wissenschaftslogik und Testability and Meaning geschrieben hast, während Reichenbach doch ganz andere\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{ja}}.} Probleme anpackt, die entweder NAGEL, LENZEN oder FRANK behandelt. Ich würde großen Wert darauf legen -- habe aber noch nicht Deine Antwort --, wenn Du Deine kurze Einleitung in Band 1 mit LOGIC OF SCIENCE bezeichnen wolltest. Ich meine, daß das ein wesentlicher Beitrag von Dir zu unserer Bewegung war und das damit ausgedrückt werden soll. Da kannst Du auch die Probleme anschneiden, die ja in den Einzeldisziplinen behandelt werden. Ich nehme an, daß Du ja auch in Mathematics and Logic einiges über die Verknüpfung mit den \neueseite{}\zzz Realwissenschaften sagen wirst.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{ja}}.} Mich beschäftigt, weil ich doch mit Morris in so gutem Kontakt bin, die Frage, was ihn an R\editor{eichenbach} so anlockt. Siehst Du, ich habe gegen MISES, MENGER usw. viel einzuwenden, aber gerade an den Punkten, die mir wichtig sind für den Empirismus als Gesamtauffassung, Induktion usw., fühle ich mich bei ihnen gut aufgehoben, nicht bei R\editor{eichenbach}, so tüchtig er sonst sein mag. Du hörst doch MORRIS viel diskutieren, mußt daher wissen, wie R\editor{eichenbach}’s Anschauungen sich bei ihm spiegeln. INA will ich gar nicht über den Punkt fragen, sie hat ja so lebhafte Reaktionen -- aber vielleicht könnte Sie die mit dazu verwenden, dies Rätsel zu lösen. Ich meine das im Ernst. Es tut mir so leid, keine gemeinsame Linie mit Morris auf diesem Gebiet gefunden zu haben. Ich möchte ja so gern alle fünf grad sein lassen, z.\,B. sagen, natürlich in dieser Richtung \ldots\ aber man muß andererseits zugeben \ldots\ hingegen \ldots\ und dennoch \ldots\ Ich glaube dadurch, daß man solche Dinge sorgsam behandelt und überlegt, hilft man der Enzyklopädie, die vielleicht eine sehr gute Sache wird. Ich hoffe es. Denk doch, wie weit wir damit schon sind!} Ich habe mich mit dem Buch von HEMPEL\IN{\hempel} und OPPENHEIM\IN{\oppenheim} mehr beschäftigt, weil ich es besprechen muß.\fnEE{Diese Rezension von Hempel/Oppenheim, \textit{Der Typusbegriff im Lichte der neuen Logik}, erschien als Neurath, ,,La notion de ,Type` à la lumière de la logique nouvelle``.} Ich finde vieles sehr gut darin, aber ich kann mich nicht mit den gleitenden Begriffen befreunden. Ich hab ein Platinmeter in Paris als Standardmaßstab und ich muß halt für Härte auch ein Standardmineral haben, der Unterschied ist, daß ich nur einen Meterstab und viele Härte-Objekte brauche, als ob jede Härte eine andere Qualität wäre. Daß man diese Härten in einem topologischen Merkmalraum ordnen kann, ändert nichts daran, daß die Gegenstände, denen diese Merkmale zukommen, jeweils die Härte X haben oder nicht, man kann diese Härten beliebig \glqq dicht\grqq\ standardisiert haben. Die zweistelligen Prädikate betreffen nur die Ordnung, nicht die Gegenstände. Man kann über sie reden, ohne etwas von dieser Ordnung zu wissen. Hart wie Diamant (daß das ein \glqq härter\grqq\ ist, \glqq als\grqq\ ist nicht \uline{nötig} zur Härtebestimmung) ist eben eine Qualität, die zu- oder abgesprochen wird, so wie \glqq fünfmetrig\grqq . Ich kann nicht sehen, daß Klassifikation \glqq endlich\grqq\ sein muß im Gegensatz zu einer zweiten Gruppierungsart. Was denkst Du hierüber?\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Nicht klar, was Neurath gegen Hempel einwendet; oder gegen welche These er sich wendet.}}} \uline{Julius Kraft}\IN{\kraftjulius} (Utrecht) war bei mir. Was hältst Du von seiner Auffassung? Ein sonderbarer Igel. Ich las jetzt sein ERKENNTNIS UND GLAUBE. Mit Vergnügen ersah ich aus einer Anmerkung, daß die Theologie unseres lieben SCHOLZ\IN{\scholzheinrich} nicht in Ordnung ist. Er rettet die Philosophie auf sonderbare Weise. Manche Katholiken verfahren ähnlich. Was \glqq irdisch\grqq\ ist an Geschichte usw., wird bei den Naturwissenschaften untergebracht. Doch \glqq es bleibt ein Himmelsrest\grqq\ -- \glqq zu tragen peinlich\grqq , um Faust\fnEE{Der ,,Himmelsrest`` ist die Umkehrung von Goethes ,,Erdenrest``; siehe Anm.~\refcn{1930-07-22-Neurath-an-Carnap-Erdenrest}.} darauf anzuwenden, und es scheint mir, daß der Himmelsrest wesentlich für Julius Kraft\IN{\kraftjulius} ist. Er will zu unserer Pariser Tagung kommen. Ich hoffe mal von Dir mehr zu hören. Auch über Chicago und die Bekannten. Horkheimer\IN{\horkheimer} hofft, Du suchst ihn auf, wenn Du nach Europa fährst. Vielleicht kannst Du auf der Rückkehr zusammen mit Frank\IN{\frankphilipp} ein Duett singen in seinem Kreis! } Nun aber viele gute Grüße Euch zwei beiden \grussformel{herzlichst Dein\\ON} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846286}{RC 102-51-49 (Dsl. ON 221)}; Briefkopf: gedr. \original{Mundaneum Institute The Hague} mit näheren Angaben, msl. \original{19.~Mai 1937} sowie (hsl. gestrichen) \original{Beilagen (Behmann usw.)}.}