Neurath an Carnap, Den Haag, 19. Mai 1937 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 19. Mai 1937 Mai 1937

Lieber Carnap!

Draußen scheint die Sonne und zwitschern die Vögel, die Bürokatze schläft schnurrend auf dem Bürobalkon. Eben ist mein Englischlehrer weggegangen, der mir mit seinem Oxford Englisch helfen muß, ein „American“ Buch-Englisch schreiben zu lernen, eifrig sieht er im Oxford Dictionary, ich in Webster’s Dictionary nach. Es werden langsam aber sicher zwei Sprachen draus werden. Ich habe mir schon ein Privatlexikon angelegt, das ich aus amerikanischen und englischen Artikeln beliefere. Besonders herrlich finde ich die englischen Worte, die ungefähr die österreichische politische Haltung des „Fortwurschtelns“wiedergeben – es gibt deren viele. Mehr als im Hochdeutschen. Wenn Du (oder InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap) mir gelegentlich Zeitungsausschnitte senden würdest, die mir nützen können, wäre das sehr lieb, vorausgesetzt, daß es keine besondere Mühe macht, sie zu sammeln und gelegentlich zu posten. Mich interessieren z. B. Ziffern, wie: wie viele Menschen inklusive Familien leben in einem Lande aus der Einkommensquelle „Verbrechen“. Die USA Ziffern sind recht hoch. Wie steht es mit der Selbstmordzunahme bei Entwicklung der Bildung in verschiedenen Ländern und Gegenden usw. Sehr wichtig alles, was auch in moderner Zeit vorkommt, z. B. Aberglauben aller Art. Ich werde z. B. sicher bringen, daß die schönen Wolkenkratzer in NEW YORK meist kein 13. Stockwerk haben usw. Mancherlei lerne ich aus Filmen. Vor kurzem sah ich eine schlechte, aber dadurch sehr charakteristische Umarbeitung des recht üblen Hauptmannschen „Vor Sonnenuntergang“. Da kam Gefolgschaft vor und dgl. Schwielige Faust drückte entschwielte Faust usw. Die Materialsammlung und Bearbeitung von LIFE OF MODERN MEN‚ die Überlegungen, wie mans gut illustriert, beschäftigen mich viel. Ich hoffe, es soll gut werden, in PARIS werde ich Euch beiden allerlei Interessantes daraus erzählen können.

Am Samstag sehe ich HempelsPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva HempelPHempel, Eva, 1908–1944, geb. Ahrends, verh. mit Carl Gustav Hempel. Bin sehr froh, daß er auf ein Jahr zu Dir kommt. Es ist so nett, wie Du für HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, HelmerPHelmer, Olaf, 1910–2011, dt.-am. Mathematiker und Philosoph und andere sorgst. Wie ich höre, ist PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper im Pacific Gebiet, was vielleicht auch seiner Stimmung gut tun wird. Er war schon so ungut geworden. Was ja sehr zu begreifen ist. Ich hätte nur vorgezogen, wenn er kollektiv mit uns andere angefallen hätte, statt sich mehr uns als Objekt seines Grolls auszusuchen.

Ich habe mich mit dem Buch von HEMPELPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel und OPPENHEIMPOppenheim, Paul, 1885–1977, dt.-am. Industrieller und Philosoph, verh. mit Gabrielle Oppenheim mehr beschäftigt, weil ich es besprechen muß. Ich finde vieles sehr gut darin, aber ich kann mich nicht mit den gleitenden Begriffen befreunden. Ich hab ein Platinmeter in Paris als Standardmaßstab und ich muß halt für Härte auch ein Standardmineral haben, der Unterschied ist, daß ich nur einen Meterstab und viele Härte-Objekte brauche, als ob jede Härte eine andere Qualität wäre. Daß man diese Härten in einem topologischen Merkmalraum ordnen kann, ändert nichts daran, daß die Gegenstände, denen diese Merkmale zukommen, jeweils die Härte X haben oder nicht, man kann diese Härten beliebig „dicht“standardisiert haben. Die zweistelligen Prädikate betreffen nur die Ordnung, nicht die Gegenstände. Man kann über sie reden, ohne etwas von dieser Ordnung zu wissen. Hart wie Diamant (daß das ein „härter“ist, „als“ist nicht nötig zur Härtebestimmung) ist eben eine Qualität, die zu- oder abgesprochen wird, so wie „fünfmetrig“. Ich kann nicht sehen, daß Klassifikation „endlich“sein muß im Gegensatz zu einer zweiten Gruppierungsart. Was denkst Du hierüber?eKsl. Nicht klar, was Neurath gegen Hempel einwendet; oder gegen welche These er sich wendet.

Julius KraftPKraft, Julius, 1898–1960, dt.-am. Soziologe (Utrecht) war bei mir. Was hältst Du von seiner Auffassung? Ein sonderbarer Igel. Ich las jetzt sein ERKENNTNIS UND GLAUBE. Mit Vergnügen ersah ich aus einer Anmerkung, daß die Theologie unseres lieben SCHOLZPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph nicht in Ordnung ist. Er rettet die Philosophie auf sonderbare Weise. Manche Katholiken verfahren ähnlich. Was „irdisch“ist an Geschichte usw., wird bei den Naturwissenschaften untergebracht. Doch „es bleibt ein Himmelsrest“–„zu tragen peinlich“, um Faust darauf anzuwenden, und es scheint mir, daß der Himmelsrest wesentlich für Julius KraftPKraft, Julius, 1898–1960, dt.-am. Soziologe ist. Er will zu unserer Pariser Tagung kommen.

Ich hoffe mal von Dir mehr zu hören. Auch über Chicago und die Bekannten. HorkheimerPHorkheimer, Max, 1895–1973, dt. Philosoph hofft, Du suchst ihn auf, wenn Du nach Europa fährst. Vielleicht kannst Du auf der Rückkehr zusammen mit FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank ein Duett singen in seinem Kreis!

Nun aber viele gute Grüße Euch zwei beiden

herzlichst Dein
ON

Brief, msl., 3 Seiten, RC 102-51-49 (Dsl. ON 221); Briefkopf: gedr. Mundaneum Institute The Hague mit näheren Angaben, msl. 19. Mai 1937 sowie (hsl. gestrichen) Beilagen (Behmann usw.).


Processed with \(\mathsf{valep\TeX}\), Version 0.1, May 2024.