Otto Neurath an Rudolf Carnap und Charles W. Morris, 19. Mai 1937 Mai 1937

BEMERKUNGEN ZUR ENZYKLOPÄDIE

An CARNAP und MORRIS

1. Gliederung der Hefte. Ich würde meinen, daß es gut wäre, im ersten Band auch schon etwas „Belebte Natur“zu bringen, nicht nur „Unbelebte Natur“. Es würde dann mit den für alle Wissenschaften gemeinsamen Heften begonnen werden. Ich glaube, daß entspricht unserer gemeinsamen Meinung. Dann sollen die Einzelwissenschaften folgen und dann im zweiten Band das Historische vor allem, eventuell kann er mit THEORY OF BEHAVIOR beginnen, was ich vorziehen würde, weil SOCIAL SCIENCES mit SOCIAL BEHAVIOR zu tun haben, und daß wir PHYSICS mit BIOLOGY zusammentun, haben wir ausreichend gezeigt, wenn die beiden Biologiehefte im ersten Band sind.

2. Das Heft LOGICAL ANALYSIS OF SCIENCE war als eine vorwiegend logische Sache gedacht, darstellend Funktion der Wissenschaftslogik, die Fragen Physik, Psychologie, Termini, Sätze, Gesetze, usw. eventuell einiges, was in TESTABILITY AND MEANING steht, alles in der sehr toleranten Art von CARNAP. Also generelle Fragen, die für PHYSIK, PSYCHOLOGIE, BIOLOGIE usw. sehr interessant sind ohne daß auf die „Erkenntnismethoden“und dgl. eingegangen würde.

Nun wollte REICHENBACH nicht COSMOLOGY übernehmen, ich begann mit ihm zu korrespondieren, um ein Thema ausfindig zu machen, das seiner Begabung alle Möglichkeit der Entfaltung gibt, aber andererseits ihn nicht dazu drängt, die Streitfragen, in denen er Partei ist, zu behandeln, z. B. PROBABILITY. Es ist zu hoffen, daß es NAGEL gelingt, die Probleme zu zeigen und klug abwägend die verschiedenen Meinungen knapp zu skizzieren. Die Diskussion darüber sollen wir besser für die Spezialbände aufheben, da kann dann über INDUKTIONSLOGIK, WAHRSCHEINLICHKEIT usw. alles gesagt werden, was jeder auf dem Herzen hat.

Nun scheint REICHENBACH eine Anregung von MORRIS mißverstanden zu haben. Er schrieb mir so: „Nun schrieb mir Morris und machte mir den Vorschlag, über Logical Analyses of Physics zu schreiben. Ich habe ihm auch schon geantwortet, daß ich damit einverstanden bin. Derartige Dinge liegen mir momentan viel näher. Ich würde darin erst Allgemeines über die physikalische Erkenntnismethode, Wahrheit, Wahrscheinlichkeit, Theorienbildung usw. schreiben, und dann auch auf die spezielle Theorie eingehen, wie die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Wenn es Ihnen auch recht ist, will ich das also übernehmen.“

Das heißt anstelle eines Heftes über vorwiegend logische Probleme, welche für die verschiedenen Wissenschaften interessant sind, die Beziehung von PHYSIK, BIOLOGIE, PSYCHOLOGIE (ich hoffe, CARNAP wird das in der kurzen Einleitung skizzieren unter LOGIC OF SCIENCE und vielleicht andeuten, soweit es geht, in MATHEMATICS AND LOGIC) aufhellen helfen, ein Vorschlag, der sich (übrigens durchaus Reichenbachs Interessenkreis entsprechend) auf PHYSIK beschränkt und gerade die Fragen berührt, die wir besser später einmal erst unter uns erledigen, z. B. WAHRHEIT usw. Die Anschauungen von Reichenbach gerade über die physikalischen Erkenntnismethoden, Wahrscheinlichkeit, Theorienbildung usw. sind – ich lasse dahingestellt, ob sie sich mal durchsetzen oder nicht – in unserem Kreis vorwiegend skeptisch beurteilt und Gegenstand der Kontroverse. Ich sehe CARNAP, FRANK, NAGEL, NEURATH und wohl in vielem auch Sie recht bedenklich die Thesen Reichenbachs über Überprüfung von Hypothesen, Induktions-Ableitung usw. betrachten. Die speziellen Theorien behandelt FRANK unter PHYSICS. Ich glaube, daß CARNAP fast keine Überdeckungen mit LENZEN, NAGEL, FRANK gebracht hätte, wenn er oder ein ihm ähnlicher auf Logische abgestellter Verfasser das Heft LOGICAL ANALYSIS OF SCIENCE gemacht hätte, daß aber ein solches Heft von REICHENBACH gemacht etwas völlig anderes sein muß, der ganzen inneren Haltung Reichenbachs entsprechend, und, wie ja auch der Vorschlag von Reichenbach zeigt, aus einer Reihe von Überdeckungen besteht. Ich glaube nicht, daß REICHENBACH der Mann ist, um sich auf eine rein logische Analyse der Physik zu beschränken, da ja FRANK selbst die Theorien behandeln will! Es müßte dann Reichenbach sich mit Frank auseinandersetzen. Aber ich glaube, besser wäre es, wenn Reichenbach eine Arbeit übernehmen würde, die ihm entspricht, keine wesentlichen Überdeckungen bringt und Konflikte vermeidet. Ich würde gern von Ihnen beiden hören, was sie darüber denken. 🕮

Nun haben wir in Band II eine Lücke bekommen. Für ROUGIER war vorgesehn: HISTORY OF EMPIRICISM. Nun wollte er HISTORY OF RATIONALISM schreiben, ich habe als Kompromiß vorgeschlagen etwas, das noch gerade hereinpaßt. Nun fehlt eigentlich eine Schilderung, wie der Empirismus sich durchsetzt. Da wären nun REICHENBACH mit RELATIVITY AND EMPIRICISM und vielleicht NAGEL (wenn man ihn nicht in den ersten Band hinter MATHEMATICS AND LOGIC setzt) sehr am Platze. Reichenbach hat sich mit diesen Fragen viel beschäftigt und könnte lebhaft und eindringlich zeigen, durchaus im Sinne einer wissenschaftslogischen Analyse, was die Auffassung der Relativitätstheorie für die Entwicklung der modernen empiristischen Auffassung bedeutet hat. Indem er bis zur Gegenwart fortschreitet, kann er die logische Situation schildern, in der diese umfassende Auffassung sich befindet. Er müßte mit Frank besprechen, wie sie sich das aufteilen, aber das scheint mir gut möglich, besonders, wenn man an die Ausfüllung dieser Lücke denkt. Sie ist sicher nicht komplett damit gefüllt.

Ich habe nun REICHENBACH am 7. Mai und heute nochmals [geschrieben], weil ich noch ohne Antwort bin, er möge RELATIVITY AND EMPIRICISM übernehmen. Ich habe ihm gesagt, er solle mir mitteilen, ob er vielleicht etwas anders das Thema formulieren will und ihm den Aufbau der 20 Heft geschildert.

Die „rational reconstruction“Reichenbachs, die MORRIS in seinem Brief an mich erwähnt, behandelt, wie ich oben andeute, vorwiegend kontroverse Punkte. Wir alle anderen können eher, so wie jetzt alles aufgebaut ist, die Sachen vermeiden, die zu kontrovers sind, ich muß z. B. nicht über „Protokollsätze“, „Wahrheit“, „Induktion“mich äußern. Ich glaube, daß diese Vorsicht gut ist. Ich sehe bis jetzt eine harmonische Sache. Nur diese AUSWAHL von Reichenbach finde ich unglücklich, wenn er was anderes schreibt, ist das nur zu begrüßen.

Meinen heutigen Brief an REICHENBACH lege ich in Kopie bei.

Natürlich ist es vor allem wichtig, daß keine Konflikte entstehen und alles glatt läuft, daher will ich alles tun, um REICHENBACH eine ihn befriedigende Arbeit zu ermöglichen.

Otto Neurath

Brief, msl., 2 Seiten, RC 102-51-27; Briefkopf: hsl. Carnap und 19.5.37; ohne Signatur.


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