Jetzt sitzt man wieder im Haag & kommt allmählich dazu, die alten Brief- & Dankschulden zu begleichen, die sich während meiner 5-monatlichen Abwesenheit infolge Mangels einer Schreibmaschine in Wien angehäuft haben. Um es also ordentlich chronologisch anzupacken, danke ich zunächst herzlich für Euern schönen Bericht aus Chicago, der die etwas lückenhaften Mitteilungen des Gatten in höchst erfreulicher Weise abgerundet hat. Es scheint, daß die Lehrmeinungen des Wiener Kreises, die in Österreich kläglich dahinsiechen & kein geeignetes Forum mehr finden, in Amerika guten Boden & lebhaftes Interesse finden, & das nicht nur in Eurem engsten Wirkungskreis, wo solches sich ja von selbst versteht, sondern auch in New York, wo der Gatte Gelegenheit zu mehrfachen Expektorationen fand & auf ein sehr verständnisvolles & belesenes Publikum stieß, das bis in feinsteafeinsten Subtilitäten aller rechten & linken Abweichungen des weiland Wiener Kreises eingedrungen war. Ich habe es sehr bedauert, daß ich in Chikago nicht dabei sein konnte, als die großen Diskussionen losgelassen wurden.
Nicht mindererbminderen Dank sei Dir, lieber Carnap, für Deine freundliche Weihnachts"-spende gezollt.
NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger ließ sich gleich alle Kataloge kommen, aber außer der modernen Naziliteratur fand sich wenig in Blindenschrift gedrucktes wissenschaftlich Interessantes vor, so daß ich beschloß, mir die Wahrscheinlichkeitsrechnung von MisesPMises, Richard von, 1883–1953, öst.-am. Mathematiker senden zu lassen, denn „Mein Kampf“& ähnliche weltanschauliche Werke muß man nicht unbedingt besitzen. Als ich aber hier im Haag mit meinem Mann Rücksprache nahm, erwies es sich, daß er den MisesPMises, Richard von, 1883–1953, öst.-am. Mathematiker schon hat & daß er außerdem dringend wünscht, ich solle mich des Studiums der englischen Sprache befleißen, dieweil er ja jetzt regen Anteil an der angelsächsischen Welt zu nehmen genötigt sei, da wäre es gut, meint er, wenn ich doch so viel Englisch könnte, daß er mir mitunter etwas vorlesen kann, ohne es erst mühsam übersetzen zu müssen. Da es nun erfreulicherweise etliche englische Grammatiken in Blindenschrift gibt, wird Deine edle Weihnachtsspende in Form englischen Selbstunterrichts zu meiner Bildung einen hoch willkommenen Beitrag liefern. NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger wird die Sache besorgen. Also nochmals vielen Dank, ich war sehr gerührt ob Deines wirklich freundschaftlichen Gedenkens.
Aus Wien seid Ihr wahrscheinlich durch NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger einigermaßen informiert, ich bitte zu entschuldigen, wenn ich bekannte Dinge berichte. Da wäre 🕮{}zunächst WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann, den ich zwar nicht gesehen habe, da er, als ich mit seiner Frau zusammenkam, angeblich durch Grippe verhindert war mitzukommen. Bei Sonderlingen seiner Art weiß man nie, wie man daran ist, & da er weiter keinen Versuch machte, mich zu sprechen, ließ ich es dabei bewenden. Immerhin weiß ich durch NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger& KaufmannPKaufmann, Felix, 1895–1949, öst.-am. Philosoph, daß er nach Cambridge eingeladen ist, was ja immerhin einen schönen Anfang bilden könnte. Er war nur, als ich wegfuhr, noch in einiger Sorge, wovon seine Familie während seiner Abwesenheit leben solle, aber das wird sich wohl geregelt haben. Als ich sein Büchlein über die Grundlagen der Mathematik durchblätterte, war ich erstaunt über die vollkommene Absage, die er unserer Auffassung der Mathematik zuteil werden läßt. Es sei ganz unstatthaft, die Mathematik als Tautologie zu betrachten. Nun ja, er ist weit von uns abgerückt.
Was den andern schwierigen Fall anlangt, ich meine R. RandPRand, Rose, auch Randin, 1903–1980, öst.-am. Philosophin, so steht die Sache recht trostlos. Sie weiß nicht, wovon sie leben soll, ist sehr heruntergekommen & hat sich in eine maßlose Verbitterung hineingeredet. Da ich über Eure Korrespondenz einigermaßen orientiert bin, weiß ich, daß Eure gute Gesinnung ihr gegenüber sich durch keine törichten Briefe ihrerseits erschüttern läßt, & das ist sehr dankenswert, denn für den armen Teufel müßte wirklich etwas geschehen. Sie war, als ich wegfuhr, gerade dabei, ihre Dissertation abzuschließen & will, wenn alles gut geht, noch vor dem Sommer ihr Hauptrigorosum absolvieren, nur weiß sie von einem Monat zum andern nicht, wovon sie leben soll. Sie hat es glücklich so weit gebracht, ihren Freund NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger so zu verärgern, daß zwischen beiden eine richtig gehässige Stimmung herrscht. Man möchte ihr gern helfen, weiß aber nicht wie, denn gelegentliche Unterstützungen weist sie ab, sie will ein Stipendium oder eine Anstellung, & wie soll man ihr das verschaffen? Daß WaismannPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann nach Cambridge geladen ist, wagte man nicht, ihr mitzuteilen, da sie es als unverdiente Zurücksetzung betrachtet hätte, daß sie dabei leer ausging. Die schwache Hoffnung, die sie auf ein polnisches Stipendium gesetzt hatte, ist jetzt auch schon verblaßt, ich glaube ja auch nicht, daß bei der stark antisemitischen Strömung in Polen so etwas sich durchsetzen läßt & in Wien ist natürlich schon gar nichts zu holen, weil außer dem Rassen- auch noch der Staatsbürger-Defekt hinderlich ist. Armer Carnap, Du sollst alle mißratenen Kindlein des Wiener Kreises unterbringen, das ist keine leichte Aufgabe, dennoch lege ich Dir die gute R. RandPRand, Rose, auch Randin, 1903–1980, öst.-am. Philosophin ans 🕮{}Herz, ehe sie ganz verhungert & ganz verrückt geworden ist. Hilf, wenn Du kannst. Man stellt sich im alten Europa die Möglichkeiten im basaltlosen Kontinent immer noch unbegrenzt vor, was sicher nicht der Fall ist, aber es kommt doch immer wieder wer unter dort drüben, für den hier kein Kraut mehr gewachsen war. R. RandPRand, Rose, auch Randin, 1903–1980, öst.-am. Philosophin hat mir einen Aufsatz über Logik vorgelesen, der mir zwar etwas phänomenalistisch, aber doch recht scharfsinnig vorkam, auch sonst hat sie allerlei in Vorbereitung, es ist schade um sie, daß sie so ein hoffnungslos armer Teufel ist & mit der Gesundheit geht es demgemäß auch sehr mangelhaft.
Mit ZilselPZilsel, Edgar, 1891–1944, öst.-am. Philosoph und Soziologe war ich auch einigemale beisammen, habe auch seinen Nachruf für SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick gelesen, der mir sehr anständig & ordentlich vorkam, besonders da man weiß, daß er in vielem nicht mit ihm übereinstimmt. Sonderbar, daß die Naturwissenschaften ausgerechnet auf ZilselPZilsel, Edgar, 1891–1944, öst.-am. Philosoph und Soziologe verfallen sind, aber der jetzige Herausgeber wußte sich keinen Rat & hat daher den alten depossedierten S.PS., den alten depossedierten gefragt, der empfahl unsern ZilselPZilsel, Edgar, 1891–1944, öst.-am. Philosoph und Soziologe& so kam die Sache zustande & ist wirklich erschienen. Sonst ist ZilselPZilsel, Edgar, 1891–1944, öst.-am. Philosoph und Soziologe natürlich der alte Nörgler, aber man hat jetzt mehr Sympathie für ihn & seine Beschwerden, da man ja nunmehr die gleichen Beschwerden hat. W. HollitscherPHollitscher, Walter, 1911–1986, öst.-dt. Philosoph dagegen macht einen sehr zufriedenen Eindruck, er hat von der psychoanalytischen Gesellschaft den Auftrag bekommen, ein umfassendes psychoanalytisches Sachregister zusammenzustellen, eine große Sache. Er scheint demzufolge denn auch zu erwarten, daß man ihn alsbald als Mitarbeiter für Eure Encyklopädie heranziehen wird. Ich habe diesen allerdings nur angedeuteten Wunsch meinem Mann überbracht, der findet aber nicht mit Unrecht, das habe noch Zeit, bis W. HollitscherPHollitscher, Walter, 1911–1986, öst.-dt. Philosoph durch andere Publikationen sich einen gewissen Namen errungen habe. Nun, wenn er, nämlich W. HollitscherPHollitscher, Walter, 1911–1986, öst.-dt. Philosoph, das hält, was er von sich erwartet, so wird er ja bald etwas Hervorragendes publiziert haben.
Von mir selbst ist zu berichten, daß ich mich kaum mehr mit Philosophie – oder sagen wir lieber mit Scientia – befasse. Auch in Wien konnte ich nur gelegentlich etwas von der Weisheit naschen, da die Zusammenkünfte mit den abgesprengten Überresten des Wiener Kreises mehr im Zeichen psychoanalytischer & soziologischer 🕮{}Betrachtung verliefen. Die Psychoanalyse steht entschieden im Mittelpunkt des Interesses. Nur R. RandPRand, Rose, auch Randin, 1903–1980, öst.-am. Philosophin las mir gelegentlich ein paar Bruchstücke logistischer Art vor. Dafür geriet ich ein wenig in die Biologie hinein & habe mir einige abrupte Kenntnisse auf dem Gebiet der Vitamine & Hormone angeeignet, die der allgemeinen Bildung sicher ganz zuträglich sind. Man nährt sich von dem, was man gerade vorgesetzt bekommt & darf nicht wählerisch sein. Vielleicht macht es Eurem logischen Gemüt Spaß, wenn ich Euch eine Art Rätsel vorlege, oder sagen wir besser eine Frage, denn da die Sache auf rein logischem Weg ohne Intuition lösbar ist, so kann man sie nicht gut als Rätsel bezeichnen.
Ein Zug fährt von Hamburg nach Berlin.aKsl. Für die Kinder!. Es fahren mit ein Lokomotivführer, ein Heizer & ein Schaffner, außerdem drei Passagiere gleichen Namens, Lehmann, Müller & Meier. Der Passagier Lehmann wohnt in Berlin. Der Passagier Meier hat 5000 M. jährlich. Der Schaffner wohnt in Wittenberge. Einer der drei Passagiere, der ebenda wohnt, hat dreimal soviel Einkommen wie der Schaffner. Der Namensvetter des Schaffners wohnt in Hamburg. Der Bahnbeamte Müller besiegt den Heizer im Schach. Wie heißt der Lokomotivführer?
Ihr seht, eine Aufgabe der Kombinatorik. Sie allgemein zu formulieren ist mir noch nicht gelungen.
Ich nehme an, daß Ihr über die Biographie des Gatten hinlänglich unterrichtet seid. Von Mexiko ist er begeistert, es scheint mir ein großes Stück Romantik dahinter zu stecken, denn die große Armut der Landbevölkerung & die Zustände in den Silberbergwerken, wo die Arbeiter durchschnittlich nicht über 30 Jahre alt werden, weil sie an Silikose sterben, sindcist ja nicht gerade zu begeisternd dbegeistern. Aber die Menschen sind liebenswürdig & voll Grazie, wenn es auch gelegentlich passiert, daß bei eifriger Diskussion einer den andern niederschießt. Nun, wie immer, es waren schöne neue Eindrücke & außerdem scheint es, als sei unser Karren wirklich wieder einmal aus dem Dreck. Auf wie lange? Bis zum nächsten Weltkrieg wird es ja doch nicht mehr lange währen. Nun, ich hoffe, man sieht sich noch vorher, wenn Ihr für den Pariser Kongreß herüberkommt. Also nochmals schönen Dank & beste Grüße von