\brief{Otto Neurath an Rudolf Carnap und Charles W. Morris, 30. April 1937}{April 1937} \anrede{Lieber Carnap,\\Lieber Morris,} \haupttext{ Ich schreibe nur einen Brief an beide, weil ich sehr beschäftigt bin. 7 Monate haben allerlei aufgehäuft und USA sowie Mexico haben neue Arbeit gebracht. Schön -- aber anstrengend. Anbei mein Brief an die University of Chicago Press im Anschluß an den Brief von Morris vom 17. April. Ich kann Morris nicht genug danken, daß er gerade in diesem Frühstadium unsere gemeinsame Arbeit so fördert. Es ist das sehr wichtig. Faust: \smallskip Beim Ersten sind wir frei Beim Zweiten sind wir Knechte. \smallskip \noindent Man muß jetzt überlegen, was für Format man vielleicht einmal benötigen kann, wenn alles gut gehen sollte. Es kann ja eine große Sache werden, diese Enzyklopädie. Aber es wird immer ein Ganzes da sein, auch wenn die kühnen Träume sich nicht realisieren lassen. Es wird kein Torso sein, wie der große ERSCH und GRUBER. Über den Titel will ich sehr nachdenken und andere Leute fragen. INTERNATIONAL hat in diesem Zusammenhang wohl keine politische Tönung. Ich glaube, es ist nicht unwichtig zu betonen, daß es sich \gesperrt{nicht} um eine \glqq amerikanische\grqq\ Enzyklopädie handelt. Die meisten Enzyklopädien neigen dazu, die Autoren recht national zusammenzusetzen. Ich will dem auch mal nachgehen und insbesondere die großen wissenschaftl[ichen] Enzyklopädien ansehn. Z.\,B. Handwörterbuch der Staatswissenschaft hat vorwiegend deutsche Mitarbeiter, die amerikanische Social Sciences Encyclopaedia vorweigend amerikanische und englische Mitarbeiter. ich kann mir denken, daß viele Menschen es sehr begrüßen, daß eine Enzyklopädie Mitarbeiter aus verschiedensten Ländern hat und eine gemeinsame Basis schafft -- also \gesperrt{nicht} national beschränkt ist. Man \gesperrt{sagt} zwar, daß die Wissenschaft nicht national sei, aber man \gesperrt{handelt} anders, wenn man die großen Handbücher und Enzyklopädien aufbaut. Von der Enc\editor{yclopaedia} Britt\editor{annica} und der Grande Enc[yclopédie] ganz zu schweigen, die überwiegend nationale Mitarbeiter verwenden, was z.\,B. zur Folge hatte, daß manche Artikel der neuen Auflage der Gr\editor{ande} Enc\editor{yclopédie} Fr\editor{ançaise} geradezu schlecht sind, so daß in der Presse darüber geklagt wurde. \glqq Unity\grqq\ als erstes Wort hat ja was für sich -- das ist wahr. Andererseits kann man UNITY OF SCIENCE ENCYCLOPAEDIA\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{Diese Übersetzung ist auch jetzt noch möglich}}.} nicht ins Deutsche übersetzen -- das war schon beim Vorschlag Internat[ional] Unity of Science Enc[yclopaedia] nicht angenehm. Während Enzyklop[edie] der Einheitswissenschaft die Übersetzung von Enc[yclopaedia] of Unified Science ist. Ich warte, was verschiedene Freunde sagen. Ich schreibe bald darüber. Ich hoffe bald zu wissen, wie die drei ersten Artikel heißen sollen in Heft I. Und ob CARNAP dort Logic of Science macht. Daß er Mathematics and Logic macht, löst viele Schwierigkeiten. Bezüglich REICHENBACH warte ich noch auf FRANKS Antwort. Was Reichenbach vorschlägt, liegt ja weit ab von dem, was wir von Carnaps Beitrag erwartet hatten. Es würde sich um die \gesperrt{logischen} Probleme handeln, also um das, was auch in Testability and Meaning behandelt ist. Was Reichenbach meint, ist völlige Überschneidung mit Frank, Lenzen, Nagel. Aber wir werden sicher einen \neueseite{} Ausweg finden. Ich werde, was möglich ist tun, damit Reichenbach in den ersten zwei Bänden aufscheint. Aber ich möchte alles vermeiden, was unsere Differenzen bereits im Anfang zu sehr in den Vordergrund rückt. Die Gesamtenzyklopädie wird ja dadurch originell sein, daß sie ganz freimütig und explicit die Differenzen aufzeigen wird. Carnap hat in Testability and Meaning so schön die Serie der Sprachen aufgezählt, ähnliche Übersichten sollten wir auf allen Gebieten machen. Ich habe seinerzeit so etwas wie Klassifikation der optischen Hypothesensysteme an Hand ihrer Elemente versucht. Andererseits ists wichtig, daß die tatsächliche -- historische -- KONVERGENZ, soweit sie da ist, aufgezeigt wird. Ich glaube, daß Sie dazu viel zu sagen haben werden. Ich warte mit Spannung, was in HARVARD los ist. Es wäre traurig, wenn HARVARD nicht möglich wäre, weil es eine etwas isolierende Atmosphäre schafft. NEW YORK und CHICAGO nehmen die Menschen, insbesondere Ausländer, sehr in Anspruch. Gibt es nicht eine andere stillere Stätte? CHICAGO liegt etwas weit weg von der Küste -- ich denke an Ausländer, welche die Bahnfahrt zahlen müssen, die nicht billig ist. Andererseits ist Chicago sozusagen jetzt eine Art Zentrum der UNITY OF SCIENCE MOVEMENT und sollte führen. Also warten wir, was in HARVARD los ist. Ich schreibe der Presse, daß wir am besten so vorgehen \smallskip \noindent 1. Eine Sendung Prospekte an nähere Freunde der Bewegung. Nicht allzuviele. \noindent 2. Eine Sendung für unseren Kongreß in Paris. \noindent 3. Eine Sendung für die anderen Kongresse in Paris. \smallskip \noindent Ich weiß nicht, ob die PRESS einen Vertreter in Paris hat, der sich um so eine Sache kümmert. Die Franzosen selbst sind nicht sehr eifrig, wie ich an HERMANN sehe. Ich bekomme sehr viele Klagen über nicht erhaltene Kongreßakte und nicht erhaltene Separata. Im übrigen bin ich dafür, daß die eigentliche Kampagne im Oktober in USA und in Europa beginnen soll. Ich werde darüber noch Näheres schreiben und hoffe auch auf Anregungen. Es ist schön, daß sich STRAUMANN für uns interessiert. Ich werde mir seine Sachen ansehn. Ich habe die Schriften von WIRTH, deren Kommen Morris avisierte, noch nicht erhalten. CHICAGO wird ja ein Heim für unsere Bewegung, wenn Helmer und Hempel auf ein Jahr hinkommen sollten. Das wäre erfreulich, aber auch sehr nützlich. Welche Anregungen bieten die USA. Die anderen Mitteilungen über Reichenbach, American Philosophical Association, Carnaps Referat usw. haben mich sehr interessiert. Es wäre mir lieb, wenn Ihr irgend etwas dafür tun könntet, daß ich für unser internationales Archiv, dessen Ausbau ich betreibe, Berichte, Artikel, eventuell Bücher erhalte. Ich glaube, es wird das der Bewegung nützen. Vorläufig ist noch nicht so viel beisammen, um die Liste publizieren zu können. Wenns aber etwas mehr wird, ließe sich das machen. Viele gute Grüße an Sie zwei beide und die Frauen und Chicago überhaupt. Lieb wäre mir zu hören, was CARNAP auf dem Enzyklopädiekongreß Schönes sagen kann. Eine inhaltvolle Sache wäre erwünscht -- abgesehn von dem, was er zur Vereinheitlichung der Logik sagen will. } Mit besten Grüßen an die verschiedenen wissenschaftlichen Bekannten an der Universität \grussformel{Otto Neurath} \ebericht{Brief, Dsl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846301}{RC 102-51-54}; Briefkopf: gedr. \original{Mundaneum Institute The Hague} mit näheren Angaben, msl. \original{30.~April 1937}.}