Neurath an Carnap, New York, 24. Januar 1937 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 24. Januar 1937 Januar 1937

Lieber Carnap!

Zunächst mal: Ich habe mit HorkheimerPHorkheimer, Max, 1895–1973, dt. Philosoph telephoniert und ihm mitgeteilt, daß Du gern kämst, daß Du aber die Anstrengungen der Reise besonders jetzt scheust usw. Darauf hat er sofort eine Fahrt per Flugzeug bewilligt. Sollte Deine Reise daran scheitern, daß Du das zweite Mal mit der Bahn fahren müßtest, dann würde er auch die zweite Fahrt per Flugzeug anbieten – aber nur dann. Natürlich bezahlt er Deinen ganzen Aufenthalt hier. Er sagte, es wäre gut, wenn Du bald kämest. Er schreibt was über uns und meint, Du könntest das im Sinne der höheren Wahrheit beeinflussen. Bitte schreib also umgehend, welchen Samstag Du Dir aussuchst, möglichst bevor ich wegfahre, damit ich Dich noch sehe. Auch soll ja die Aussprache zeigen, daß wir alle zusammen ungefähr einer Meinung sind, Du und NagelPNagel, Ernest, 1901–1985, am. Philosoph, verh. mit Edith Nagel und ich usw. Denn jetzt werden immer einzelne Zitate von uns gegeneinander ausgespielt. HorkheimerPHorkheimer, Max, 1895–1973, dt. Philosoph ließ mir frei einzuladen, wen ich wolle. Hast Du einen besonderen Wunsch außer NagelPNagel, Ernest, 1901–1985, am. Philosoph, verh. mit Edith Nagel? Ist jemand hier, der uns sehr nahesteht? Wenn HelmerPHelmer, Olaf, 1910–2011, dt.-am. Mathematiker und Philosoph da wäre, würde ich ihn bitten.

Eben höre ich von OlgaPNeurath, Olga, 1882–1937, geb. Hahn, auch Neuräthin und Peterl, öst. Philosophin und Mathematikerin, verh. mit Otto Neurath, Schwester von Hans Hahn und Louise Fraenkel-Hahn, daß FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank mit GödelPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker beisammen war, daß es ihm sehr gut geht, daß er nach USA kommen will usw. Wie gut, daß auch die Psychosen ihre Unsicherheiten haben. Wie sagt der Kirchenvater „Intra cloacas et urinas nascimur“– und andererseits „Intra depressiones et manias vivimus“…Was meint Ihr beide, soll man nun GödelPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker einladen?aKsl. ja. Statt MengerPMenger, Karl, 1902–1985, öst.-am. Mathematiker, verh. mit Hilda Menger? Er hat sehr viel mit uns ge"-meinsam und vor allem mit Dir und TarskiPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker so viel Berührungspunkte. Bitte um Eure Meinung.

Ich wollte Dir sofort schreiben. Aber da hat sich wieder eine Menge ereignet. Am Freitag hatte ich, kaum angekommen, eine wichtige Sitzung und darnach – unerwartet – eine Besprechung mit einem der führenden Verleger, der einen wundernetten Vertrag über ein Buch mit Bildern abschloß‚ ein schönes soziologisches Thema, das ich früher mal angeregt hatte. Zahlt vorher. Option auf meine kommenden Werke dieser Art usw. Es war sehr erfreulich. Dann schrieben die Compton-LeutePCompton, Arthur, 1892–1962, am. Physiker, wahrscheinlich durch den Lauf der Ereignisse stimuliert, sie wollten schon für diese Auflage Bilder unseres Instituts haben– wieder fein. Da mußte ich einige Vorschläge zusammenstellen. Am Sonntag erschien der feine Artikel von KaempffertPKaempffert, Waldemar, 1877–1956, am. Wissenschaftsjournalist und Museumsdirektor, Vetter von Otto Neurath in der TIMES‚ der sich als sehr nützlich erwiesen hat.

Das ist alles so günstig. Jetzt haben wir etwa 2 Jahre Ruhe im Haag, wahrscheinlich länger. Und statt täglich Zeit zu vergeuden, um irgendwie die Existenz zu retten und alle Kräfte zu zersplittern, kann ich jetzt endlich wieder mal ruhig arbeiten. Das ist mir vor allem wegen der Enzyklopädie wichtig. Abgesehn davon, daß ich mein eigenes Heft gründlich bearbeiten kann, werde ich nun mit Mitarbeitern zusammen die Terminologie der Enzyklopädie systematisch vorbereiten können unter Verwendung vorhandener Speziallexika usw. Man kann, wenn man Zeit und etwas Mittel hat, wirklich viel Nützliches machen. 🕮{}

Ich hoffe sehr, daß Du mit Deinem Gürtel gute Erfolge hast und daß es Euch beiden gut geht. Wenn nur die gesamte Weltlage nicht so trostlos wäre. Und was es da alles für sonderbare Prozesse gibt, und was man sonst alles hört, z. B. aus Wien. Es ist betrüblich, bedrückend. Aber man atmet etwas freier trotz allem, wenn man weiß, daß man wieder mal ruhiger wissenschaftlich arbeiten kann.

Grüß mir InenPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap, die Spenderin kalter Wundertränke. Grüß mir den schreibfaulen MorrisPMorris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, verh. mit Trude Morris und sei selbst gegrüßt von

Deinem
Nth

Brief, msl., 2 Seiten, RC 102-51-81 (Dsl. ON 221); Briefkopf: msl. George Washington Hotel\,/\,Room 1020\,/\,23, Lexington Avenue. New York City, am Briefende hsl. 24. Jan. 37.


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