Otto Neurath an Rudolf Carnap, 3. Januar 1937 Januar 1937

Lieber Carnap!

Mit Morris wurden ungefähr folgende Punkte besprochen:

Es besteht Einigkeit darüber, daß der Kongreß 1939 (voraussichtlich HARVARD UNIVERSITY) wie alle bisherigen Kongresse nur Referate bringen soll, die von „Eingeladenen“gehalten werden. Wenn wir ein Referat zulassen, soll damit ausgedrückt werden, daß wir es, wenn möglich ganz, sonst im Auszug, publizieren. die Auswahl findetvor, nicht nach dem Kongreß statt.

Es soll für diesen Kongreß ein eigenes amerikanisches Komitee zusammengesetzt werden, so daß die Einladungen vom „großen Komitee“und vom „amerikanischen“zusammen ausgehen. Sonst bleibt alles wie bisher. Das Kongreßkomitee funktioniert so, daß ich die Nichtlateiner, Rougier die Lateiner bearbeiten werden.

MORRIS meint, man solle ein möglichst allgemeines Thema wählen, etwa LOGIC OF SCIENCES, um sozusagen den einzelnen Wissenschaften Raum zu geben. Ich bin sehr dafür, den einzelnen Wissenschaften Raum zu geben, meine auch, daß man – wie in Kopenhagen – verschiedenartige Referate zulassen kann, daß man aber, wenn irgend möglich, ein bestimmteres „Thema“angeben sollte, da LOGIC OF SCIENCE mit dem Pariser Kongreßthema sehr ähnlich klingt. Im übrigen meine ich, und Morris findet diese Meinung beachtenswert, sollte man nicht nach Wissenschaften gruppieren. Wir haben ein besonderes Interesse daran, Vertreter verschiedener Wissenschaften gemeinsam sprechen zu lassen. MORRIS meinte, daß vielleicht Biologie, Psychologie, Soziologie zusammen ein gutes „Hauptthema“wären. Eventuell finden wir dafür einen guten gemeinsamen Namen. Im übrigen aber fanden wir, daß Probleme, die „quer laufen“, viel für sich haben. Etwa: Statistik, Wahrscheinlichkeitsbetrachtung usw. Dahin zählt z. B. die allgemeinere Bedeutung der Quantenmechanik als Betrachtungsweise usw. MORRIS meint, daß die LINGUISTIK genügend hervortreten soll. Ganz einverstanden.

Wir wollen möglichst früh beginnen, Mitwirkende für den Kongreß zu interessieren. MORRIS und ich waren darüber einig, daß die Kongresse nicht als Veranstaltungen einer Sekte erscheinen dürfen. Andererseits soll aber doch eine gemeinsame Linie erkennbar sein.

Wir rechnen, daß der Kongreß etwa 10 halbe Tage umfassen wird. Wir haben als rohe Schätzung angesetzt, daß 4 halbe Tage der Biologie, Psychologie, Soziologie gewidmet sein sollen, 2 halbe Tage der Statistik, Wahrscheinlichkeitsbetrachtung usw. und 4 halbe Tage Mathematik, Logik, Linguistik, Physik usw. Wobei diese Tageseinteilungnicht als Programmeinteilung gemeint ist.

Die ENZYKLOPÄDIE wird wohl von der UNIVERSITY PRESS herausgegeben. Die Vereinbarung soll bestimmen, daß der Preis eines Heftes 75 Cents beträgt (nicht sehr gut für die Einnahmen, aber sonst wird die Sache zu teuer), daß der Verlag die Verpflichtung übernimmt, 20 Hefte herauszubringen, wenn er wenigstens 250 Subskribenten hat. Nach 50 Stück Absatz will er uns 1212%zahlen. Wir müssen Übersetzungskosten, Redaktionskosten usw. decken…MORRIS meint, daß für die ersten 20 Pamphlete kein Honorar gezahlt werden soll, 🕮 Kaempffert meint, daß, wenn wir den Vertrag in Händen haben, wir von einer Foundation sozusagen „Vorschüsse” bekommen können. Das wäre natürlich viel wert. Außerdem will der Verlag 50 Freiexemplare geben. Die benötigen wir z. B. für all die, welche der Enzyklopädie jetzt schon Geld geben. Sie bekommen dafür Freiexemplare.

Es soll ein ADVISORY-Komitee eingerichtet werden. Da hinein sind z. B. REICHENBACH usw. vorgesehen, auch MALISOFF, KAEMPFFERT usw.

Unser bisheriges ENZYKLOPÄDIEKOMITEE soll dann ORGANISATIONSKOMITEE heißen.

Es ist jetzt etwa folgende Einteilung der Hefte geplant:

  1. THE UNITY OF SCIENCE. Allgemeine Einleitungen: CARNAP, DEWEY, MORRIS, NEURATH (über die Enzyklopädie als Ganzes), ROUGIER (?).

  2. THEORY OF SIGNS, MORRIS

  3. LOGICAL ANALYSIS OF SCIENCES, CARNAP

  4. GENERAL LINGUISTICS, ANDRADE

  5. MATHEMATICS (Tarski? Menger? Quine?)

  6. PROCEEDINGS OF EMPIRICAL SCIENCES, LENZEN

  7. PHYSICS, FRANK

  8. PROBABILITY (Nagel? Hempel?)

  9. COSMOLOGY (Das physikalische Weltbild der Gegenwart) REICHENBACH

  10. BIOLOGY (Mainx? empfohlen durch Frank)

  11. FORMAL BIOLOGY (WOODGER)

  12. CHEMISTRY, G. N. LEWIS (noch Näheres festzustellen)

  13. BEHAVIOR of ANIMAL and MAN (Tolman? Brunswik? Arne Næss? etwa zusammen?)

  14. SOCIAL SCIENCES, NEURATH (Sociology?)

  15. HISTORY OF SCIENCES, ENRIQUES (Boll)a(Boll, )

  16. HISTORY OF LOGIC, ŁUKASIEWICZ

  17. HISTORY OF SCIENTIFIC EMPIRICISM, ROUGIER

  18. LOGICAL EMPIRICISM, JØRGENSEN (der gegenwärtige Stand der Bewegung, mit Einführung in die Bibliographie) nebst INDEX.

Es ist in Erwägung etwa LOGICAL PROBLEMS OF PHYSICS von Bridgman, und womöglich ein Pamphlet mit mehreren Aufsätzen, die darstellen, wie Fragen der ETHICS, AESTHETICS, EDUCATION usw. behandelt werden könnten.

Es ist an FREUNDLICH, MISES, FEIGL, AJDUKIEWICZ, LINDENBAUM, BOLL, SENIOR usw. zu denken. Auch für das ADVISORY COMMITTEE.

MORRIS empfiehlt für die Gesamtentwicklung den Namen „SCIENTIFIC EMPRICISM“ und nur für unser heutiges Stadium den Namen LOGICAL EMPIRICISM. Das hat wohl manches für sich.

Ich glaube, daß diese Auswahl genügend weit ist und daß doch nicht schon innerhalb der 20 Pamphlete schärfere Gegensätze auftreten, die wir doch wohl mehr den nächsten Bänden vorbehalten, in denen die Gegensätze ausdrücklich Gegenstand der Publikation sind! NAGEL würde sehr gut über die PROBABILITY berichten können, zumal er auf diesem Gebiete gerade arbeitet. HEMPEL eventuell mit OPPENHEIM würde ich gern für TYPEN, ORDNUNGSLEHRE usw. reservieren, da auf diesem Gebiete eine originelle Arbeit sehr erwünscht wäre. Für Nagel sehe ich zunächst keine andere Arbeit – und er sollte jedenfalls mitarbeiten, da er sehr geeignet ist. MORRIS und ich darin ganz einig.

Bemerkungen bald erbeten.

Mit guten Grüßen

ON

Brief, msl., 2 Seiten, RC 102-51-83 (Dsl. ON 221); Briefkopf: msl. An Prof. Rudolf Carnap\,/\,Chicago, Copie an Morris und 3. Januar 1937.


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