\brief[Neurath an Carnap, o.\,O., 12.~November 1936]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 12. November 1936}{November 1936} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{\cutcn{Anbei der gemeinsame Brief an Dich und Morris\IN{\morris}. Außerdem schrieb ich ihm privat über den \glqq Fall\grqq\ Reichenbach\IN{\reichenbach}, da er persönlich anregte, Reichenbach\IN{\reichenbach} ins Komitee zu nehmen. Es steht so. Ich bat Reichenbach in Paris, auch zur Enz\editor{yklopädie} zu sprechen. Er verschwand, ohne mir etwas zu sagen stillschweigend. Er wollte offenbar nicht mitmachen. Dann lud ich ihn schriftlich zur Mitarbeit ein, frug ihn mehrmals über seine Meinung, er antwortete zögernd, und so, daß er offenbar nicht Interesse hatte, sich mit uns zu sehr zu verbinden -- auch andere Details, die in dieser Richtung liegen. Da ich nicht sein Interessengebiet bearbeite, kommen wir ja nicht \glqq aneinander\grqq\ -- glücklicherweise. Seine Induktionssachen halte ich für im wesentlichen verfehlt, wenn auch irgendwie in \gesperrt{engerem} Rahmen für nützlich, seine Wahrscheinlichkeitslogik scheint in vielem mit Recht kritisiert zu werden. Ich glaube nicht, daß Wahrscheinlichkeit mit Induktion zusammen abzuhandeln wäre \ldots\ das ist ein Problem für sich. Vor allem aber fände ichs bedenklich, in den ersten zwei Bänden eine \gesperrt{absolut} kontroverse Sache als \gesperrt{eigenes} Pamphlet zu bringen. \gesperrt{Gegen} Reichenbach sind wohl mehr oder weniger: Carnap, Feigl, Hempel, Neurath, Mises usw., der eine gegen dies, der andere gegen jenes. Das ist kein Einwand, daß er in den nächsten Bänden der Enzyklopädie sich äußert, wie ers für gut findet. Ich habe mit Frank, der doch wohl in Physik und was damit zusammenhängt unser Hauptberater sein muß, gesprochen und als beste Lösung gefunden -- nach langer Überlegung: \begin{itemize} \item[] REICHENBACH kosmische Physik (COSMOLOGY sagt man hier)\\MISES \gesperrt{Angewandte} Statistik (angewandte Logik kommt für Mises nicht in Frage). Auf die Weise kommen diese beiden Gegner nicht in \gesperrt{Konflikt}. Ich halte es für sehr wichtig, MISES zu gewinnen und ebenso REICHENBACH einen Platz einzuräumen, aber ich halte es für verfehlt, Streitigkeiten zu erleichtern. Übrigens fällt Probability and Induction \gesperrt{völlig} aus dem Rahmen heraus. Da gäbe es viel von der Art, z.\,B. Predictions and Control und so weiter. Das soll alles auf die nächsten Bände verschoben werden. Einzelnes wird ja fallweise gesagt! Das genügt. \end{itemize} \noindent Anwendung der Logik auf die Wissenschaften. Das kann heute von uns niemand machen. Und wenn es gemacht werden \uline{müßte}, muß es eine kleine Gruppe in Kooperation machen. Hempel ist noch zu unentfaltet, so etwas zu unternehmen. Das würde zu zahllosen Rekriminationen der Spezialisten führen. Ich würde es vorziehn, wenn die ersten zwei Bände so sind, daß die Fachleute für ihr Fach einstehn. Kommt dann ein Angriff, hat eben jeder für \gesperrt{sein spezielles} Fach einzutreten. Hempel soll möglichst in den Bänden über Ordnung, Wahrscheinlichkeit usw. zu Worte kommen. Ich wäre froh, wenn Dir dies Argument einleuchtete. Ich habe den Eindruck, daß wir gut auftreten, wenn wir einfach nur den allgemeinen Einleitungsteil bringen, dann die 3 Artikel \gesperrt{über} Sprache und Zeichen, dann die Einzeldisziplinen und dann 3 Artikel über Geschichte der Meinungen. Das ist harmonisch und gut ausbalanciert. Wenn wir ein Sammelheft über allerlei Wissenschaften zusammenbekommen, umso besser. Aber der Terminus \glqq Wert\grqq{} ist bedenklich usw.} Zu Reichenbach\IN{\reichenbach} schrieb ich Morris\IN{\morris}, daß Reichenbach\IN{\reichenbach} so sehr bestrebt ist, sich von uns abzusondern, daß in diesem Moment seine Teilnahme am Komitee kein Glück wäre -- wahrlich nicht. Er benutzt jede Gelegenheit, zu betonen (wie früher Zilsel\IN{\zilsel}, und Popper\IN{\popper} noch immer, so auch in Kopenhagen), daß er \gesperrt{nicht} zum Wiener Kreis gehört und sich von ihm wesentlich unterscheidet. Es ist ihm unangenehm, daß die Pariser ihn immer zum Wiener Kreis rechnen. Jørgensen\IN{\joergensen}, Rougier\IN{\rougier}, Morris\IN{\morris} verhalten sich anders, die betonen \gesperrt{nie}, daß sie woanders stehn, und so entwickelt sich die UNITY OF SCIENCE MOVEMENT. Den Terminus verwenden alle -- manche gelegentlich gemengt mit anderen. Reichenbach\IN{\reichenbach} verwendet \gesperrt{forciert} den Terminus: \neueseite{}\zzz wissenschaftliche Philosophie (was bald Philosophie der Wissenschaft, bald eine wissenschaftliche Philosophie im Gegensatz zu einer unwissenschaftlichen meint) und vermeidet die Unity of Science Marke. Es ist bedrückend, seine Polemik gegen Feigl\IN{\feigl} zu lesen und seinen Artikel, der ja schon die Abmilderung darstellt im Journal\fnEE{Reichenbach, ,,Induction and Probability`` (die Polemik gegen Feigl), bzw. ,,Logistic Empiricism in Germany and the Present State of its Problems``.} \ldots\ von vielem anderen zu schweigen. Ich denke an die Art der Programmänderung in Paris usw. Es ist traurig, daß er so ist. Aber es ist ein Faktum \ldots\ Ich persönlich habe ja keinen Konflikt mit ihm. In meinem Buch über den Wiener Kreis rede ich nur nett über ihn und die maßlosen Angriffe Poppers\IN{\popper} gegen ihn haben mich veranlaßt, im Falsifikationsartikel ihn in Schutz zu nehmen,\fnEE{Neurath, \textit{Le développement du Cercle de Vienne et l’avenir de l’Empirisme logique}, 50f.\,/\,GphmS 698, bzw. ,,Pseudorationalismus der Falsifikation``.} obgleich ich mit ihm nicht übereinstimme und finde, daß er ähnlich absolutistisch wie Popper\IN{\popper} ist. Aber er ist ein Mann von Meriten und wenn er mit uns kooperieren und nicht sich von uns segregieren würde, wäre ja alles gut. \cutcn{Ich hoffe, daß Morris das ein wenig einsieht. Ich würde, ohne mit Frank in Kontakt getreten zu sein, diese neuen Vorschläge nicht gut annehmen können. Wenn wir drei etwas machen, von dem ich mit Frank gesprochen habe, sind wir wenigstens 4 gegen 2 (Jørgensen, Rougier) -- obgleich man ja nicht so rechnen wird, denn alles soll möglichst einstimmig geschehn. Ich möchte, das schrieb ich auch Morris, als Chief-Editor vor allem für Frieden und Gemeinschaft sorgen. So wie ich meine eigenen Sonderwünsche unterdrücken muß, muß ich auch sonst manches einengen, damit ein schönes harmonisches Gebilde entsteht.} Mit guten Grüßen an Dich und Inen\IN{\ina}}%\Apagebreak \grussformel{Dein\doned{\\\editor{Otto Neurath}}}\bigskip \includegraphicscn[width=8cm]{Grafiken/Elefant-11.png}{} \grafik{Platzhalter Grafik: Elefant} \briefanhang{NB.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{weiß ich nicht}}.} Haben die Studenten über den Vortrag berichtet?} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846379}{RC 102-52-04}; Briefkopf: msl. \original{12.~Nov. 1936}; statt schriftlicher Signatur Zeichnung eines Elefanten.}