Ina Carnap an Olga Neurath, Chicago, 30. Oktober 1936 Ina Carnap an Olga Neurath, 30. Oktober 1936 Oktober 1936

Liebe Frau Neurath‚

Neurath war jetzt für drei Tage hier, ist gestern abends abgereist und hat mich beauftragt, Ihnen zu schreiben, weil er in all der Hetze nicht dazukommt. Alles geht im neurätlichen Tempo, jeder Tag zum Platzen voll mit Verabredungen, Vorträgen, Meetings, Museumsbesuchen – und dazu fast alles in Englisch –, wir haben ihn wieder einmal restlos bewundert und beneidet. Ich selber habe nur einen Vortrag gehört, in dem er einer auserlesenen Professorengruppe die Notwendigkeit der Encyklopädie beibrachte. MorrisPMorris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, verh. mit Trude Morris führte ihn ein mit den Worten: „Dr. Neurath speaks – as he himself puts it – bad English fluently“. Und das tat er dann auch. Aber es ist doch erstaunlich, einen wie großen Wortschatz er sich in der kurzen Zeit angeeignet hat. Er war in recht guter Stimmung, alles scheint sich erfreulich und erfolgreich zu gestalten. Wir waren schrecklich froh darüber; denn so was kann man in Amerika nie vorauswissen. Erfolg hängt hier von so vielen Dingen ab, nicht nur von dem Mann selber; „Beziehungen“ sind beinahe das Wichtigste; und man muß eine Spezialität haben, und diese Spezialität muß gerade Mode sein. Ich hab den Eindruck, daß Neurath wunderbar nach Amerika paßt. Alle Herzen fliegen ihm zu, besonders die Frauenherzen; Frau MorrisPMorris, Trude, verh. mit Charles W. Morris z. B. war ganz entzückt von ihm. Dann habe ich noch gehört, daß die Verhandlungen mit der Chicago Press wegen der Encyklopädie guten Erfolg hatten; bis jetzt hatte niemand Zeit, es mir genau zu erklären, aber ich habe so etwas aufgeschnappt, daß sie bereit sind, eine gewisse Anzahl von Heften in den nächsten zwei Jahren herauszubringen, die eine Art geschlossenes Ganzes sein sollen – eine Enzyklopädie in der Enzyklopädie –, und wenn sich diese Sachen gut verkaufen, dann weitere Ringe um dieses Zentrum zu legen. Gestern war Neurath von 4 – 10 bei uns und hat seine sämtlichen Feinde – TarskiPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker, ReichenbachPReichenbach, Hans, 1891–1953, dt.-am. Philosoph usw. – abgeschlachtet, mit dem Carnap über historische Fragen der Gedankenentwicklung im Wiener Kreis gekämpft – Genaueres muß da auch er oder Carnap berichten, weil ich Vorlesungen hatte und erst spät nach Hause kam. Am Abend haben wir ihn dann an die Bahn gebracht, in die Hände Dr. KleinschmidtsPKleinschmidt, Harry Edwin, 1884–1960, am. Arzt übergeben, mit dem er zunächst nach Buffalo fuhr. Dieses alles schreibend sehe ich, daß ich ein höchst ungeeigneter Berichterstatter über seine Tage hier bin, weil ich so wenig dabei war. Aber er will ja selber bald schreiben, und dieses soll nur ein Zwischengruß sein, damit Sie nicht so lange ohne Nachricht sind. Oh, aber ich weiß doch noch ein paar Fakten. Er hat einen zweistündigen Vortrag für die Soziologen gehalten und mit einer Professorengruppe – einer engeren Auswahl aus denen, denen er den Enzyklopädievortrag hielt – einen Abend lang in Morris’PMorris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, verh. mit Trude Morris Wohnung über die Enzyklopädie diskutiert, am selben Abend um 10 Uhr noch eine Verabredung mit einem Mann aus China gehabt, der sich für Visualization in China interessierte, hat bei einem Lunch einen Vortrag mit Lichtbildern für den Publicity Council der Social Workers gehalten – kurz, viele Unternehmungen, zu denen ein Mann mit normalem Tempo wie Carnap mindestens drei Wochen, nicht drei Tage, gebraucht hätte. Der Haupt- und wichtigste Eindruck für 🕮 mich war jedenfalls, daß er sehr vergnügt, weil erfolgreich und wieder oben schwimmend, war. Er will im Dezember wieder nach Chicago kommen, aber gerade in den Weihnachtsferien, wo wir voraussichtlich nicht hier sein werden.

Wir haben uns jetzt mit dem Gedanken an einen langen Aufenthalt hier befreundet und zunächst eine nette Wohnung in einem Apartmenthotel genommen, die nur den Nachteil hat, daß sie nicht sehr nah der Universität ist. So lange das meist herrlich sonnige Herbstwetter anhält, gehts ja fein, aber wenn wieder die Chicagokälte und der berüchtigte Chicagowind einsetzen werdenawird, wird uns dieser Nachteil mehr bewußt werden. Besonders, wo nicht nur der Carnap zu Vorlesungen geht, sondern ich auch für 12 Wochenstunden belegt habe. Ich bin daher eifrig, aber bisher erfolglos, auf der Suche nach einer näher gelegenen unmöblierten Wohnung. Das ist hier wirklich ein Problem für so anspruchsvolle Leute wie wir, denn die Wohnungen sind richtige Maulwurfslöcher. Es gefällt mir diesmal besser hier als im Winter, denn die erste Neugierde um die CarnapsPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap hat sich gelegt und wir können wieder ein stilles Leben mit wenig Einladungen führen. Außerdem macht mir mein Studium Spaß, ich gehe in eine professional school für Social Service Administration. (Da werden die Social workers herangebildet, für die dann Neurath die Publicity Departments berät). Da lerne ich aus unmittelbarer Nähe mehr über Amerika, als ich sonst in vielen Jahren gelernt hätte. Es ist nicht sehr erfreulich, denn alles relief work ist hier miserabel organisiert, alles ist Wohltätigkeit und wenig ist staatliche Hilfe. Ich bin halt sehr verwöhnt durch das lange Leben im roten Wien, wo man sich nicht als Almosenempfänger vorkam, wenn man sich die Arbeitslosenunterstützung holte, und wo Auskunft über Verhütungsmittel eine Selbstverständlichkeit war (ist hier in vielen Staaten verboten) und wo die Gemeindebauten existierten usw. Na ja, das wird sich jetzt auch in Wien verschlechtern und hier vielleicht auch einmal verbessern. Momentan verschwendet Amerika Unsummen auf die Präsidentenwahl. Unser politisches Interesse gilt immer noch weit mehr Europa als Amerika; nicht nur aus alter Treue, sondern auch weil hier alles noch recht unübersichtlich für uns ist, und weil wir denken, daß doch zunächst in Europa unser künftiges Schicksal gemacht wird. Schön sieht es ja nirgends aus. Wenn man jetzt wieder Englands Haltung zur Einmischungsfrage in Spanien sieht, ist man nicht erfreut.

Beide FranksPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef FrankPFrank, Hania, 1894–1967, geb. Gerson, verh. mit Philipp Frank haben die leise Absicht, im Frühjahr besuchsweise herüberzukommen, wozu ich sie sehr ermuntert habe. Persönlicher Kontakt mit Leuten hier ist von entscheidender Bedeutung. HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel scheint von seinem Unfall wieder ganz hergestellt zu sein; da sind wir arg froh darüber.

Ich hoffe, daß der Carnap meinen mangelhaften Bericht noch ergänzen wird.

Mit sehr herzlichen Grüßen

Ihre
Ina

Brief, Dsl., 2 Seiten, RC 102-52-17, Briefkopf: gestempelt Rudolf Carnap\,/\,Faculty Exchange\,/\,University of Chicago\,/\,Chicago, Ill., msl. Chicago, den 30. Oktober 1936.


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