Neurath an Carnap, New York‚ 26. September 1936 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 26. September 1936 September 1936

Lieber Carnap!

Endlich kenne ich meinen Reiseplan. Also ich fahre am 15. Okt. in NEW YORK ab, über New Orleans, St. Louis, wo ich ebenso wie in Philadelphia, Washington usw. bildpädagogisch zu tun habe. Ich bin 27., 28. in Chikago; wenn es nötig sein sollte – das müßte ich aber jetzt schon wissen –, kann ich zur Not bis 29. bleiben und statt Lansing Milwaukee besuchen. In Buffalo muß ich zu einem Termin da sein, daß ich das Museum besichtigen kann.

Endlich habe ich mal etwas Zeit, um Briefe zu schreiben – Weekend. Es ist sehr lieb von Euch beiden, daß Ihr Euch so um meinen Kontakt mit Euch und Eurem Kreis bemüht. Auf der Hinfahrt war ich sehr gehetzt, da man mich hier dringend erwartete. Es hängt so ungemein viel von allem ab, was ich hier zu verhandeln habe. Im Vordergrund steht, daß ich eben ein in sich geschlossenes neues System der Bildpädagogik und Visualisation vertrete (es handelt sich nicht etwa nur darum, Illustrationen für dies oder jenes zu machen …!). Und es besteht die Hoffnung, daß dafür eine spezielle Möglichkeit geschaffen wird.

Mein Englisch ist mäßig, aber möglich. Ich sprach gerade gestern frei über Bildpädagogik mit Lichtbildern. Ich schlage auch FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl für die Konferenz vor: VISUALISATION and CIVILISATION. Am besten wird es in einem solchen Fall sein, etwas frei zu sprechen und einen Teil ausgearbeitet vorzulesen. Gestern war Diskussion. Aber das funktioniert nur dann glatt, wenn ich hie und da von einem Freunde etwas eingeflüstert bekomme. Manche Amerikaner sprechen recht unverständlich für mich. Lieber wäre mir in größerem Kreise keine Diskussion, wohl aber in kleinerem Kreise. FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl schlug mir vor, über etwas Soziologisches zu sprechen und über etwas Bildpädagogisches. Was rätst Du mir für Chikago? Ich weiß ja nicht, worüber Du schon gesprochen hast.

Am meisten beschäftigt mich jetzt, daß man die „exakten“ Termini, wie Verifikation usw., nicht einmal als orientierende Grenzbegriffe anwenden soll. Die Frage der ENZYKLOPÄDIE ALS MODELL. MorrisPMorris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, verh. mit Trude Morris regte das an. Wie wärs, unter diesem Titel auch etwas von der Geschichte unserer Bewegung zu bringen. Von der alten Enzyklopädie zur neuen Enzyklopädie.

Ich möchte mit Dir 1. Arne NæssPNaess@Næss, Arne, 1912–2009, norweg. Philosoph besprechen, 2. TarskiPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker und die Bedeutung der polnischen Logiker für unsere Entwicklung. Er schrieb mir darüber. 🕮

Ich warte mit Interesse auf Deinen Aufsatz über TESTABILITY. Da ich ja jetzt sehr bemüht bin, irgendwo Fuß zu fassen, wäre mir lieb, wenn Du meine Stellungnahme mit guten Zitaten erwähntest.

HERMANN ist nicht sehr zuverlässig im Versenden. Wenn Du was haben willst, schreibe ihm recht bestimmt, Du erwartest noch das und das. Ich hoffe, Du hast die 8 FASCICEL als Kongreßmitglied bekommen?

Was sagst Du zur Diskussion mit PetzällPPetzäll, Åke, 1901–1957, schwed. Philosoph? Wie weit stimmst Du mir zu? Was möchtest Du genauer präzisiert sehn?

Ich werde mit NagelPNagel, Ernest, 1901–1985, am. Philosoph, verh. mit Edith Nagel beisammen sein. Ich hoffe, er wird mir helfen, den Vortrag für IOWA und CHIKAGO auszuarbeiten. Ich schreibe immer ein etwas primitives Englisch – was an sich nichts schadet. Aber manche Zuspitzung geht so verloren und viele Termini fehlen mir, ganz abgesehn davon, daß doch zwischen Englisch und Amerikanisch gewisse Unterschiede bestehn, die z. B. im Rahmen meiner bildpädagogischen Vorträge bereits eine Rolle spielen.

Wie schön, daß es HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel gut geht. Grüß mir InenPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap. Und besprich mit MorrisPMorris, Charles W., 1901–1979, am. Philosoph, verh. mit Trude Morris mein Kommen. Vor allem die Besprechungen mit dem Verlag über die Enzyklopädie. Vielleicht sendest Du mir ein paar Worte der Information.

Mit herzlichen Grüßen, bald wieder von Dir zu hören hoffend

Dein
Otto Neurath

Brief, msl., 2 Seiten, RC 102-52-12 (Dsl. ON 220); Briefkopf: gedr. Mundaneum Institute The Hague mit näheren Angaben, msl. Prof. Rud. Carnap\,/\,Faculty Exchange, University of Chikago\,/\,Chikago, Ill. und 26. Sept. 1936; am Briefende Elefanten-Zeichnung.


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