\brief[Olga Neurath an Carnap, Den Haag, 9.~September 1936]% {Olga Neurath an Rudolf Carnap, 9. September 1936}{September 1936} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Das ist nett von Dir, daß Du mir so einen schönen Bericht über Deine amerikanische Lebensweise geschickt hast. Von meinem Mann höre ich nicht eben viel über Dich, nur so gelegentliche Schlagworte, aber jetzt kann ich mir doch etwas besser vorstellen, was da drüben los ist. Es freut mich um Deinetwillen, obwohl es mich um unsertwillen etwas betrübt, daß Dir ein bleibender Aufenthalt dort winkt, denn das mit den 3 Jahren ist wahrscheinlich mehr als Formalität zu betrachten. Für uns sinkt die Aussicht, Euch gelegentlich wieder im Haag begrüßen zu können, nun mehr wohl auf Null herab, aber für Dich ist es dort drüben natürlich viel anregender \&\ hoffentlich auch sonst angenehmer als in der etwas engen Prager Atmosphäre. Jetzt, wo außerdem der Wiener Zirkel seiner Auflösung entgegensehen dürfte, hast Du sozusagen an Wien auch nichts mehr verloren, kurzum, die neue Existenz in Amerika ist sicherlich als eine erfreuliche Aufbesserung des Daseins zu betrachten. Was meinen Mann anlangt, so ist er vor einer Woche losgefahren, erst zwei Tage nach London \&\ dann über den Ozean. Er wird Dir sicher bald schreiben, da er mit Dir zusammenkommen will. Auszubleiben gedenkt er bis Mitte Dezember, aber wer weiß, ob er nicht noch allerhand zu tun \&\ zu organisieren findet, das ihn noch länger dort zurückhält, die Reise ist schließlich nicht so billig \&\ so bequem, daß man sie nicht ausnützen sollte, so intensiv wie nur immer möglich. Über Deine Vertretung in Prag hat Ph. F\editor{rank}\IN{\frankphilipp} einmal berichtet, man schien diverse Bedenken zu haben, aber damals handelte es sich nur um eine ganz unoffizielle Fühlungnahme \&\ seither habe ich nicht mehr von der ganzen Sache gehört, aber das wirst Du bald alles aus des Gatten eigenem Munde erfahren. Nun muß ich vor allem für die amerikan\ekl{ische} Zeitschrift in Blindendruck danken, die mir bereits zugeschickt worden ist. Es ist schrecklich nett von Dir, an mich gedacht zu haben. Ich bin also derzeit mit interessanten philologischen Studien beschäftigt, denn nicht nur, daß ich das Englische nur ganz unzulänglich beherrsche -- soweit man in so einem Fall überhaupt von beherrschen reden darf --, kenne ich die engl\ekl{ische} \neueseite{}\zzz Kurzschrift nicht, so daß ich meinen Scharfsinn dabei ungefähr so üben muß, wie man es bei Entzifferungen alter Inschriften tut, die in einer unbekannten Sprache mit unbekannter Schrift geschrieben sind. Immerhin habe ich schon einiges entziffert \&\ es macht mir viel Spaß, ich glaube aber nicht, daß es dafür stände, sich die Zeitschrift regelmäßig zusenden zu lassen, so danke ich Dir vielmals für Dein freundliches Anerbieten, sollte ich einmal in die Lage kommen, etwas mehr Englisch zu können, so werde ich mich melden, denn wer weiß, vielleicht verschlägt uns das Schicksal noch einmal westwärts, dann werde ich natürlich englische Bl\ekl{inden-}Bücher gut brauchen können. Vorläufig aber ist es noch nicht so weit, ich hoffe immer noch, daß diese Reise meines Mannes uns die Möglichkeit einer bescheidenen Existenz hier im Haag verschafft, bis der nächste Krieg kommt, wo dann sowieso alles kaputt geht. Über die Ermordung Schlicks\IN{\schlick} hast Du wohl aus Zeitungen \&\ Briefen viel gehört. So wenig man mit ihm einig war, darüber sind sich nun wohl alle einig, daß sein Tod für den Wiener Kreis auch das Ende bedeutet. Wenn der Mörder tatsächlich vorhatte, den verderblichen Einfluß der Schlickschen Ethik auf die Jugend zu hemmen, so dürfte ihm das gelungen sein, denn in Österreich herrschen jetzt nur mehr Metaphysik \&\ Theologie. In einem Artikel in der ,,Fröhlichen Zukunft``\fnEE{Austriacus, ,,Der Fall des Wiener Professors Moritz Schlick -- eine Mahnung zur Gewissenserforschung`` (der Titel der Zeitschrift lautet korrekt \textit{Schönere Zukunft}); hinter diesem Pseudonym verbirgt sich Johann Sauter; vgl. den Wiederabdruck in Stadler, \textit{Der Wiener Kreis}, 924--930.} wird denn auch dieser Mord nur mit schlecht verhohlener Genugtuung beklagt \&\ schließlich darauf hingewiesen, daß Schlick\IN{\schlick} vorzugsweise von Juden umgeben war, daß er unter Einfluß seines Freundes O\ekl{tto} \nneurath{}\inneurath{}, dem ehemaligen Finanzminister der Münchner R\ekl{äte-}Republik,\fnE{Genaugenommen bekleidete Neurath dort kurzzeitig das Amt des Präsidenten des Zentralwirtschaftsamtes (im Artikel wird er auch nur unbestimmt als Minister bezeichnet); vgl. dazu Sandner, \textit{Otto Neurath}, S.\,122--132.} einen religionsfeindlichen Verein gegründet habe \&\ daß die volksvergiftenden Schriften dieses Vereins sogar jetzt noch verkauft werden. Der Artikel schließt dann mit den üblichen antisem\ekl{itischen} Wendungen \&\ scheint die Familie Schl\ekl{icks}\IN{\schlick} sehr geärgert zu haben. Derzeit bemühen sich Neider\IN{\neider} \&\ Ph. Frank\IN{\frankphilipp} wegen Herausgabe des Schl\ekl{ick}schen\IN{\schlick} Nachlasses,\fnEE{Zur Geschichte des Nachlasses von Schlick (und demjenigen Neuraths) siehe Mulder, ,,The \textit{Vienna Circle Archive} and the Literary Remains of Moritz Schlick and Otto Neurath``.} wo wahrscheinlich noch allerhand Volksgift zusammengebraut sein dürfte. Ph. Fr\ekl{ank}\IN{\frankphilipp}, der eigentlich vorhatte, irgendeinen Kongreß in Moskau zu besuchen, zieht es in Anbetracht der dortigen Verhältnisse derzeit vor, das Land nicht zu betreten, eine Vorsicht, die sehr am Platz sein dürfte, da man dort gegen Ausländer verschärftes Mißtrauen zu hegen scheint. Ihm selbst wird man kaum Unannehmlichkeiten bereiten, aber seine Frau\IN{\frankphilippfrau}, die aus einem ehemals \neueseite{}\zzz russischen Gebiet stammt, könnte doch irgendwie belästigt werden \&\ dem will man sich nicht aussetzen. Auch R.~v.~Mises\fnA{Initiale ,,M`` hsl. vervollständigt.}\IN{\mises}, der aus Stambul zu demselben Kongreß zu reisen gedachte, scheint diesen Plan aufgegeben zu haben, da ihn die Schwierigkeiten wegen der Einreisebewilligung zu sehr geärgert haben. Dieser ganze Prozeß mit dem sonderbaren Gerichtsverfahren\fnEE{Zu den Moskauer Schauprozessen als Elementen des stalinistischen Terrors siehe Hildesheimer, \textit{Geschichte der Sowjetunion}, 460--482.} \&\ den sonderbaren Geständnissen aller Angeklagten ist uns \&\ sämtlichen Bekannten ein vollkommenes Rätsel, man weiß nicht, was dahintersteckt \&\ ob wirklich eine ernsthafte Sache vorliegt. Jedenfalls hört man von weitgehenden Verhaftungen in der Provinz \&\ sogar im Heer, \&\ wieder ist man geneigt, dem weisen Ausspruch beizustimmen, daß Parlamente, wenn sie schon zu nichts anderem gut sind, doch ein vorzügliches Ventil für unzufriedene Stimmungen im Reiche sind. Man reagiert durch Schimpfen ab \&\ kann hoffen, einmal vielleicht sogar ans Ruder zu kommen \&\ seine Wünsche durchzusetzen. Fehlt ein solches Ventil, so gibt es Verschwörungen oder Revolten. Das Kapitel Spanien ist sehr traurig. Es sieht nicht so aus, als ob die Regierung noch viel Aussichten hätte, es ist ja auch schwer durchzuhalten, wenn die Gegner von außen tatkräftig unterstützt werden, während die Franzosen, die die Sache eigentlich am meisten anginge, offenbar den Regierungstruppen so gut wie kein Kriegsmaterial zukommen lassen, \&\ von den Russen hört man auch nichts, außer daß ihnen gelegentlich vorgeworfen wird, ,,die Roten`` in Spanien mit Geldmittel zu versehen. Die ,,Nationalisten``, die zu einem großen Teil aus Mauren \&\ Fremdenlegion bestehen, die also ihrem Titel wenig Ehre machen, haben mächtige Freunde, trotz aller Verhandlungen über Nicht-Einmengung, \&\ die Engländer wissen offenbar nicht, was sie mehr fürchten müssen, einen Sieg des ,,Kommunismus`` oder eine Ausbreitung der ital\ekl{ienischen} Einflußsphäre im Mittelmeer, wofür sie auch nicht viel übrig haben. Die Raufereien in Palästina\fnEE{Bei dem sogenannten Arabischen Aufstand von April 1936 bis April 1939 in Palästina kam es zu gewaltsamen Konflikten zwischen Arabern, Juden und der britischen Mandatsverwaltung.} sind auch wenig erfreulich, immerhin hat die Sache nicht allzu große Dimensionen. Auf der Tagung der Friedensvereine in Brüssel waren auch ein palästinensischer\fnA{\original{palästinenser Arab}} Araber \&\ dito Jude anwesend, welche übereinstimmend erkärten, sie würden viel besser mit\neueseite{} einander auskommen können ohne die Engländer, was immerhin nicht uninteressant ist. Ach ja, diese pacifistischen Kongresse. Wieviel Kriege wird man noch erleben müssen, bis die Pacifisten einsehen, daß ihre Methoden der Kriegsverhütung nie zum Ziel führen können! Wenn ich Dir hier europäischen Kleinkram auftische, bin ich mir wohl bewußt, daß für Euch andere Gegenden viel aktueller sind.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{oh nein}}.} Während unsere Zeitungen von den Vorgängen im fernen Osten nur so dürftig berichten, daß man gerade merkt, wie wenig man sich auskennt, ist ja das wahrscheinlich für Amerika ein Gegenstand größter Wichtigkeit \&\ größten Interesses \&\ man kriegt darüber wohl viel zu lesen. Nun, es wird Dir aber wohl so ählich gehen wie uns, die wir auch immer eifrig die Rubrik ,,Donaulanden`` nachsehen. Aus größerer Distanz vergrößern sich die Dimensionen heimatlichen Interesses, was uns die Donaulanden, das ist für Dich jetzt wohl Europa. Aus der engeren Heimat aber will ich doch noch melden, daß wir vom Tode des Paul Hansmann\IN{\hansmannpaul} erfuhren, der im Frühjahr an einer Blinddarmentzündung, die zu spät operiert wurde, gestorben ist. War Dir das bekannt? Wir erfahren sehr wenig aus dem Reich, weil die Leute bange sind, uns zu schreiben. Daß Deine Existenz in Amerika recht anstrengend sein muß, ersehe ich aus Deinem Bericht. Auf das neue Werk bin ich sehr begierig, falls sich jemand findet, es mir vorzulesen oder mindestens zu referieren. Leider aber schaut es mit geistiger Nahrung bei mir trist aus, mein Umgang hier ist sehr nett \&\ menschenfreundlich, aber meilenfern von Problemen der Einheitswissenschaft oder der Logistik. Aber da ist nichts zu machen, man muß froh sein, wenn man überhaupt existieren kann. Der arme Gatte ist auch mehr mit unangenehmen geschäftlichen Dingen als mit Problemen obiger Art beschäftigt \&\ sein gutes Gehirn verbraucht sich in wenig beglückender Tätigkeit. Ich beneide ihn sehr, daß er jetzt wieder Gelegenheit haben wird, mit Dir höhere Probleme zu wälzen. Nun habe nochmals herzlichen Dank für die nette Freundestat, erhole Dich recht an den schönen Seen \&\ grüße Ina\IN{\ina} \&\ das Ehepaar F\ekl{eigl}\IN{\feigl}\IN{\kasper} bestens von mir. Schönen Gruß,} \grussformel{Deine\\O. \,N.} \ebericht{Brief, msl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846421}{RC 102-52-18}; Briefkopf: msl. \original{den Haag, 9.9.}, Signatur msl.}