Neurath an Carnap, Den Haag, 1. Juli 1936 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 1. Juli 1936 Juli 1936

Lieber Carnap!

Vielen Dank für Deinen Brief vom 11. Juni, der mich auf dem Kongreß erreichte. Wir waren alle tief berührt durch SchlicksPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick Ermordung. Es ist alles grauslich. FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank hielt einen kurzen Nachruf (das wird allmählich seine Sonderaufgabe – traurig). Er wies darauf hin, wie SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick in Wien eine Entfaltung für seine Ideen fand wie nie in Deutschland, einen guten Boden. Er schilderte seine Stellung zum „Spiel“ des Lebens, zur Wissenschaft um ihrer selbst willen und endete mit einem Hinweis darauf, daß nun wohl zunächst in Wien nicht mehr viel vom Wiener Kreis aktiv sein werde. SchlicksPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick Vortrag wurde von FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank vorgelesen. Du wirst ihn ja gedruckt in der ERKENNTNIS bekommen. Ich finde, ich hätte netter zu ihm sein können. Schade, daß er durch WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph so ganz okkupiert war, was ihn von uns allen etwas entfernte. Aber im großen war er doch ganz mit uns und durch seinen common sense vor wirklichen Fehlwegen mehr geschützt als mancher andere, der vielleicht im einzelnen mehr mit uns übereinstimmte. Die Zeit im ZIRKEL war unsere beste Kooperationsperiode, SCHLICKPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick und HAHNPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn wirkten beide assoziierend. Du und FRANKPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank habt in Prag, wie es scheint, eine gute Gemeinschaft aufgebaut, das wird nun auch zerstört. Hoffen wir, daß die Verbindung mit USA viel Gutes und Neues schafft. SCHLICKSPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick Tod stimmt nachdenklich und drängt einem Betrachtungen über unsere Bewegung auf. Der ernsthafte Empirismus ist nicht so stark, wie man ihn wünschen wollte. Die rein logistischen Fragestellungen verschleiern oft eine Haltung, die wenig mit Empirismus zu tun hat, ich denke dabei nicht nur an SCHOLZPScholz, Heinrich, 1884–1956, dt. Philosoph usw.

Ich bin sehr dafür, daß wir gemeinsam ein Bändchen schreiben. Es muß ja jetzt wieder einmal Bilanz gemacht werden. Bitte teile mit, ob Du einen Verlag hast und wie wir das Bändchen betiteln wollen. DER WIENER KREIS UND DER LOGISCHE EMPIRISMUS. Oder unbestimmter? Wir sind jetzt mehr denn je „Wiener Kreis“, habe ich in Kopenhagen festgestellt. JØRGENSENPJörgensen, Jörgen@Jørgensen, Jørgen, 1894–1969, dän. Philosoph hat seine sehr nette Ansprache in BohrsPBohr, Niels, 1885–1962, dän. Physiker Palast ganz auf „Wiener Kreis“ abgestellt und unsere Namen „eitel genannt“– Du wirst mehrfach zitiert, auch AyerPAyer, Alfred Jules, 1910–1989, brit. Philosoph, ich selbst. Habe eben dies und SchlicksPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick Vortrag zum Druck geschickt. Es ist auch klar, daß wir den EMPIRISMUS besonders scharf betonen, was man von den Polen bestimmt nicht sagen kann. Ich sprach mit KOTARBIŃSKIPKotarbiński, Tadeusz, 1886–1981, poln. Philosoph, der sich als ABSOLUTIST 🕮{}im Sinne BrentanosPBrentano, Franz, 1838–1917, dt.-öst. Philosoph erklärte. Ich hatte mit ihm über POPPERPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper korrespondiert, dessen absolutistische Haltung ihm natürlich sehr zusagte. An der Stelle entstand unsere Differenz, so zeigte sich sein Absolutismus. Er betont dabei, daß er Atheist sei und daß er im ganzen materialistisch eingestellt ist. Ich wäre also sehr dafür, daß wir so ein Bändchen schreiben. Wer gehört noch zu uns? HEMPELPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel?

Es scheint, daß die USA Reise glatt zustande kommt. Aber natürlich ists immer schwierig, inzwischen den Bestand des Instituts sicher zu stellen. Es ist in USA einiges Geld beisammen.

Die Vertretung in Prag wird erst im Herbst erledigt. FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank besprach die Frage mit mir ziemlich eingehend. Er war in Berlin mit DubislavPDubislav, Walter, 1895–1937, dt. Philosoph zusammen. Wenn wir beide in den Vorschlag kommen, liegt die Entscheidung beim Ministerium, das wäre nicht das schlimmste. Aber man weiß natürlich nicht, wie dann die Dinge liegen. Ja, überall gibts Schwierigkeiten, bald Antisemitismus, bald anderes. So wollen wir denn abwarten. Vielen Dank für Deine Intervention.

Kopenhagen war sehr anregend, weil eine einheitlichere Stimmung herrschte als in Paris und insbesondere BohrPBohr, Niels, 1885–1962, dän. Physiker immer wieder mitdiskutierte. Aber es ist eine engere Verbindung sehr nötig. LENZENPLenzen, Victor, 1890–1975, am. Physiker und Philosoph ist uns erfreulich nahe. Mit WEAVERPWeaver, Warren, 1894–1978, am. Mathematiker kam ich nicht näher in Kontakt. POPPERPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper war wieder recht aggressiv, besonders gegen die EINHEIT DER WISSENSCHAFT und die einheitliche Sprache. Er brachte alle Einwände vor, die jetzt auch Lutman-KokoszyńskaPKokoszynska@Kokoszyńska-Lutman, Maria, 1905–1981, poln. Logikerin ausbaut.

NB. In Deinem Pariser Referat sprichst Du davon, daß die Struktur unserer Formulierungen von der deraHsl. Einschub. Objekte und der Sprache abhänge. Läßt sich das korrekt ausdrücken? Es klingt etwas kantianisch. Man hat mir schon einmal so eine Formulierung von Dir vorgehalten. Ich habe sie nicht so recht verteidigt, sondern mehr als lockere Redeweise erklärt. Es erinnert ein wenig an die Wiener Debatten über die Frage, ob die Sprache oder die Wirklichkeit komplexer sei. Die Sprache ist doch selbst ein Teil der Wirklichkeit, wenn man schon so spricht. Ich sende Dir anbei die THEORIA-Texte. Mir wären Deine Bemerkungen dazu sehr lieb. Wir haben schon so lange nicht miteinander gesprochen. Es freut mich sehr, daß Du den TESTABILITY-Aufsatz bearbeitest und auf meine Bemerkungen eingehst. Ich habe die Bedenken, die ich damals nur flüchtig hinwerfen konnte, in mir weiter ausgebaut und glaube zu großer Vorsicht raten zu sollen. Wir haben größtes Interesse daran zu betonen, daß wir von konkreten Aussagen ausgehen und daß uns keine Grenzwerte im Positiven und Negativen gegeben sind. Es hat mich sehr interessiert, wie sehr DürrPDürr, Karl, 1888–1970, schweiz. Philosoph und andere logisch und nicht sehr empirisch interessierte Menschen die FALSIFIKATIONSLEHRE von PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper so anziehend finden. Sie gehört auch diesem bedenklichen Gebiet an, wo man so leicht die logisch erfreuliche Konstruktion pflegt, auch wenn sie vom Empirismus sich entfernt. Wie denkst Du über diesen ganzen Komplex augenblicklich?

Was Du über die WARSCHAUER schreibst interessiert mich sehr. Ich meine, daß wir im Zirkel z. B. schon die Frage diskutierten, daß doch die Sätze ebenso Dinge seien wie andere. Ich glaube das z. B. gegen WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph vorgebracht zu haben. Und unter dem Einfluß GödelsPGödel, Kurt, 1906–1978, öst.-am. Mathematiker entstand wohl die Meinung, daß man mit einem Teil der Sprache über den anderen sprechen könne, wie ichs in der SCIENTIA ausführte. Was die Warschauer entwickelten ist die Serie der METASPRACHEN. Und das, meine ich, ist stark durch sie bedingt. Hast Du über das hier Gesagte eine Erinnerung? Es durchkreuzen sich da verschiedene Dinge. Das eine ist die These, daß man legitim mit der Sprache über die Sprache reden könne wie über andere Dinge. Das würde ich für vor-Warschauerisch halten und dann die These, daß man sorgsam die 🕮{}SPRACHEN trennen müßte. Das hat dann wohl auch Deine logische Syntax beeinflußt. Aber ich meine, daß Du die Legitimität der Diskussion über die Sprache ähnlich wie ich schon vorher vertreten hast. Vielleicht schreibst Du mir darüber ein paar Worte, da ich ja doch bei irgend einer Gelegenheit das erwähnen will, weil TARSKIPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker darauf Gewicht zu legen scheint.

MACHLUPPMachlup, Fritz Eduard, 1902–1983, öst.-am. Ökonom kenne ich nicht. Ich bereite jetzt die NETTODISKUSSION mit KaufmannPKaufmann, Felix, 1895–1949, öst.-am. Philosoph in der ERKENNTNIS vor.1Die geplante Publikation der Diskussion zwischen Neurath und Kaufmann in der Erkenntnis wurde nicht verwirklicht. Schade, daß KELSENPKelsen, Hans, 1881–1973, öst.-am. Rechtswiss. nicht nach Kopenhagen kommen konnte. Er wurde gerade zum Ehrendoktor in Utrecht gekrönt, so wie CASSIRERPCassirer, Ernst, 1874–1945, dt.-am. Philosoph in Schottland, weshalb er auch nicht kam. KELSENPKelsen, Hans, 1881–1973, öst.-am. Rechtswiss. überwindet sozusagen die Transzendenz der Rechtsautorität, aber er hat noch die Welt der NORMEN neben der Welt des Seins. KaufmannPKaufmann, Felix, 1895–1949, öst.-am. Philosoph überwindet das auch noch, aber er hat die spezifische Sonderstellung der „Inneren Erfahrung“ .

In HARVARD wirst Du ja den so charmanten BohrPBohr, Niels, 1885–1962, dän. Physiker treffen, der sehr bemüht ist, mit uns zu harmonieren. Vielleicht hat er manches gegen früher abgeschwächt. Jedenfalls betont er nur eine bestimmte begriffliche Einstellung und nicht irgend eine konkrete These, wie JordanPJordan, Pascual, 1902–1980, dt. Physiker, der sozusagen BohrPBohr, Niels, 1885–1962, dän. Physiker vergröberte. JordanPJordan, Pascual, 1902–1980, dt. Physiker war übrigens ebenso wie die MeitnerPMeitner, Lise, 1878–1968, öst. Physikerin (Berlin) einen Moment zu sehn, da BohrPBohr, Niels, 1885–1962, dän. Physiker vorher Physikertagung bei sich gehabt hat.

Schreib mal wieder, was Ihr so treibt und sag InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap, es wäre sehr nett von ihr, wenn sie uns mal schriebe. Wir grüßen sie sehr.

Viel Glück in USA! Ich hoffe Dich im September zu sehn, spätestens im Oktober. Ich dürfte Mitte September hinüberkommenbhinüberzukommen.

In der Hoffnung, bald von Dir zu hören, mit vielem Dank für Deine Bemühungen herzlich grüßend

Dein
Nth

Brief, msl., 4 Seiten, RC 102-52-23 (Dsl. ON 220); Briefkopf: gedr. Mundaneum Institute The Hague mit näheren Angaben, msl. Prof. Carnap\,/\,Harvard University. Cambridge und 1. Juli 1936.


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