\brief[Carnap an Neurath, Skyland/Virginia, 11.~Juni 1936]% {Rudolf Carnap an Otto Neurath, 11. Juni 1936}{Juni 1936} \anrede{Lieber Neurath:} \haupttext{ besten Dank für Deinen Brief vom 30.4.; meine Korrekturen hast Du wohl inzwischen bekommen. Was meinst Du dazu, daß die Autoren der \uline{Pariser Vorträge} -- da sie doch sicher kein Honorar bekommen werden, wenigstens reichlich Sonderdrucke bekommen sollten? Und um wieviel ermäßigt werden wir das jeweilige Heft kaufen können, in dem der jeweilige Aufsatz mitenthalten ist? Ich habe nicht gemeint, als \uline{Erneuerung des gelben Bändchens} eine Sammlung von einzelnen Abhandlungen herauszubringen; sondern ich dachte an ein Büchlein, in dem die verschiedenen \uline{Kapitel} von verschiedenen Leuten geschrieben sein könnten; von Carnap\incarnap{}, Frank\IN{\frankphilipp}, Neurath\inneurath{} \textkritik{u.\,a.}\fnA{Hsl. Einschub.} etwa. Gemeinsam eine Broschüre schreiben kann man nur, wenn man an einem Ort ist; wir hatten sogar damals in Wien schon Schwierigkeiten damit. Aber die Gemeinsamkeit könnte ja dadurch verstärkt werden, daß zwar der einzelne sein Kapitel für sich schreibt, aber dann an die andern um Bemerkungen schickt, die endgültige Formulierung aber dann selber vornimmt. Ich hoffe sehr, daß \uline{Deine Amerikareise} im September zu Stande kommt. Ich will Dir mein Septemberprogramm schreiben, vielleicht nützt das was für Deine Dispositionen. Die Tercentenariumfeiern in Harvard gehn bis zum 18., wir möchten am 19. in Richtung Chicago abreisen; so eilig, weil wir ein Haus gemietet haben, dessen Besitzer am 21. selber wieder einziehen wollen. Nun die Frage der \uline{Vertretung in Prag}. Da ich mit Chicago noch immer in Unterhandlungen stehe, wollte ich eigentlich warten, wie es sich entscheidet, um dann je nachdem ein Urlaubs- oder Abschiedsgesuch in Prag einzubringen. Ich habe mir aber inzwischen überlegt, daß Deine Chancen, als Supplent für mich anzukommen, größer sind als die für die Berufung als Professor; und wenn man erst als Supplent dort wäre, wärs leichter, für die Professur in Betracht gezogen zu werden. Ich habe daher am 27.~Mai ein Urlaubsgesuch um ein weiteres Jahr ans Ministerium gerichtet und darin geschrieben, daß ich auf mein Gehalt verzichte, um dem Ministerium die Besoldung eines Supplenten zu ermöglichen. Und gleichzeitig hab ich dem Dekan geschrieben und ihm sehr suggeriert, Dich der Fakultät als Vertreter vorzuschlagen. Ich habe sehr Deinen wissenschaftlichen Einfluß auf mich und den Eindruck, den Du in meinem Seminar auf die Studenten gemacht hast, und überhaupt Deine pädagogischen Fähigkeiten gerühmt. Ich hab das jetzt schon getan, um der Fakultät zu ermöglichen, in diesem Semester noch den Beschluß zu fassen. Aber in Prag geht alles sehr langsam. Und Frank\IN{\frankphilipp} schreibt mir, daß lei\neueseite{} der in Prag der Antisemitismus wieder einmal in voller Blüte steht, und daß der Dekan Pollak\IN{\pollak}, obwohl uns sehr freundlich gesinnt und selber ein Jude, vielleicht Bedenken haben wird, so bald nach den antisemitischen Demonstrationen bei der Berufung Freundlichs\IN{\freundlich} der Fakultät wieder einen Nichtarier vorzuschlagen. Inzwischen wirst Du wohl mit Frank\IN{\frankphilipp} schon mündlich darüber gesprochen haben. Die Welt ist schweinisch eingerichtet. Herüben ist der Antisemitismus ja auch gewaltig, besonders an den Universitäten, -- so z.\,B. habe ich gehört, daß kein Nichtarier auch nur die leisesten Chancen hat, die von mir abgelehnte Stellung in Princeton zu bekommen -- aber besonders die Leute, die wirklich Geld haben und die auch am ehesten für neue Dinge zu interessieren sind, sind Juden. Das empfinde ich als den Hauptunterschied zu Europa, daß man hier noch Pläne machen kann, neue Dinge aufzuziehen, z.\,B. die Enzyklopädie oder eine Zeitschrift, Du mußt herüberkommen, wenns nur einigermaßen geht. \cutcn{Neider hat mir den Durchschlag eines Teiles des Briefes von Hollitscher geschickt, in dem er Stifter für die \uline{Enzyklopädie} aufzubringen vorschlägt. Meiner Meinung nach müßte die Sache so gemacht werden, daß das Geld, das die Leute zahlen (50 Schilling jährlich scheint mir auch so hoch, daß nicht genug zusammenkämen), ihnen als Subskriptionsanzahlung gutgeschrieben werden müßte, um die Zahlungen anziehender zu machen. Z.\,B. so, daß die, die jetzt anfangen, Beiträge zu zahlen, etwa 20\,\% Subskriptionsermäßigung bekommen und daß sie sich verpflichten müssen, das Ganze abzunehmen. Dann kann man ihnen so lange die Hefte ohne weitere Zahlungen zuschicken, bis ihre Zahlungen erschöpft sind, und von dann an ihnen die weiteren Hefte 20\,\% verbilligt liefern. Das heißt also, daß die jetzigen Zahlungen für Dich eine Vorauszahlung Deines Honorars als Chefherausgeber bedeuten würden, die Dir der Verlag sonst erst viel später zahlen würde. Und die Gratishefte an die Leute müßten dann vom Verlag von Deinem Honorar abgebucht werden. Ich glaube, daß das bei der heutigen Pleite der einzige technisch durchführbare Weg ist. Natürlich kann man die Subskription erst ausschreiben, wenn einmal das Gesamtprogramm aufgestellt ist. Du schreibst ja auch in Punkt 5 des Zirkulars vom 28.~Mai von einem ungefähren Gesamtrahmen. Kannst Du den nicht möglichst bald ausarbeiten. Ich finde, man kann keine Hefte publizieren, ehe der aufgestellt ist. Dem Rundschreiben vom 15.~Mai stimme ich zu, halte es aber für dringend nötig, die ganze Prozedur zu beschleunigen. Ich habe Dir \$~12 als meinen Beitrag für die Enzyklopädie für \nicefrac{1}{2} Jahr geschickt. Ich hatte so lange damit gezögert, weil ich gehofft hatte, es Dir hier in die Hand drücken zu können. Ich wünsche Dir recht guten Kongreßerfolg. Der Gruppe von Tegen würde ich nicht so übermäßig viel Platz einräumen wie in Paris. Durch meine Gespräche mit Phalén in Wien und mit seinen Leuten in Uppsala hab ich den Eindruck bekommen, daß eine Auseinandersetzung nicht lohnt, und daß die von Petzäll\fnA{Hsl. Einschub.} \neueseite{}\zzz betonte Übereinstimmung zwischen der Tegengruppe und dem Wiener Kreis sich nur auf Trivialitäten bezieht. Wenn Du ein Exemplar der Rezension Tinbergens über Dein Buch übrig hast, schicke es mit, dann werde ich es Schultz geben.} Mein Testabilityaufsatz befindet sich eben in gründlichem Neuguß; dabei verwende ich auch Deine Randbemerkungen. \glqq \uline{Einfluß der Warschauer auf den Wiener Kreis}\grqq\ ist ein schwieriges Kapitel, das wir eigentlich mündlich besprechen müßten. Ich bin nicht so sicher, ob unsere Meinung, daß und wie Sprache über Sprache möglich ist, für uns schon vor Tarskis\IN{\tarski} Vorträgen im Februar 1930 feststand. In unserer antimetaphysischen Haltung sind wir natürlich nicht von den Warschauern abhängig, aber in dem obigen Punkt wahrscheinlich doch. Tarski\IN{\tarski} war in Wien im Frühjahr 30, ich in Warschau im Herbst 30, meine ersten Entwürfe zur Syntax entstanden im Frühjahr 31, sicherlich durch die Warschauer beeinflußt. Freunde Dich in Kopenhagen mit den Amerikanern möglichst an. Hier geht alles nur durch persönliche Beziehungen, auch Vortragseinladungen u.\,dgl. Ohne Morris\IN{\morris} wäre meine Vortragsreise nie so ordentlich zustande gekommen. Ich war im Lauf des Mai und hauptsächlich April in Ann Arbor, Urbana, Iowa City, Buffalo (dort ist jetzt ein Wiener, Fritz Machlup\IN{\machlup}, Ökonom, ein Freund Kaufmanns\IN{\kaufmannfelix}, der sich in Wien wegen Antisemitismus nicht habilitieren konnte, sondern in einem Geschäft beteiligt war, Professor geworden. Kennst Du ihn vielleicht? Ich werde ihn im Sommer in Harvard treffen und ihm von Dir reden; vielleicht kann da ein Vortrag für Dich herauskommen), Harvard, Columbia, Princeton, Yale und Cornell.\fnEE{Zur umfangreichen Vortragstätigkeit Carnaps im Jahr 1936 vgl. TB und die dortigen Hinweise auf die Vortragsmanuskripte.} Ab Juni werden hier die sehr teuren Eisenbahntarife heruntergesetzt, sodaß eine Vortragsreise eher lohnt. Seit 3 Wochen sind wir jetzt hier in Virginia in den Bergen und machen Ferien vor dem Harvardsommer. Am 3. Juli wollen wir in Harvard sein. Meine Adresse ist dann bis 19.~Sept.: 7 Francis Avenue, Cambridge, Mass. Als allgemeinen Eindruck habe ich von der Vortragsreise mitgenommen, daß die Professoren wenig kapieren, die Studenten viel eher; das beste Auditorium hatte ich in Columbia und in Iowa City (wo sie durch Feigl\IN{\feigl} schon etwas interessiert waren). Die Professoren waren ziemlich überall eine Enttäuschung. In Princeton haben sie zwar kapiert (Bernays\IN{\bernays}, Weyl\IN{\weyl}, Neumann\IN{\neumannvon} waren dabei), sympathisieren aber nicht mit uns. Besonders Weyl\IN{\weyl}, der die Kasse des Institutes verwaltet, sagte, warum ich denn nicht lieber ordentliche Mathematik triebe -- und hat der Univ\ekl{ersität} auch keinen Beitrag zum Honorar aus der Institutskasse gegeben. \textkritik{Mit herzl\ekl{ichen} Grüßen, auch an Jørgensen\IN{\joergensen}, Frank\IN{\frankphilipp}, Hempel\IN{\hempel} u. die andern Freunde, die in Kop\editor{enhagen} sind,}\fnA{Hsl. Einschub.} } \grussformel{Dein\\R. Carnap} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846445}{ON 220 (Dsl. RC 102-52-26)}; Briefkopf: gedr. \original{Skyland Inn and Bungalows\,/\,On Skyland Drive\,/\,Skyland, Va.}, ergänzt durch msl. \original{den 11.~Juni 1936}.}