Neurath an Carnap, Den Haag, 30. April 1936 Otto Neurath an Rudolf Carnap, 30. April 1936 April 1936

Lieber Carnap!

Die Korrekturen für Paris sollten rasch gemacht werden, ich habe daher die Korrekturen hier erledigt, aber Du hast auf alle Fälle Abzüge bekommen, wenn Deine Korrekturen noch rechtzeitig ankommen, werden sie verwendet. Die Literaturangabe wurde geändert. Es werden im Kongreßbericht so ziemlich alle Pariser Vorträge drinnen sein – feine Sache.

Ich habe von BlackPBlack, Max, 1909–1988, brit.-am. Philosoph nichts weiter gehört. Ich finde es ganz nett, daß er das macht. Ich bin sehr für eine Erneuerung des gelben Bändchens. Ob aber die Sammlung von einzelnen Abhandlungen das richtige ist? Ich wills nicht negieren und wenn Du eine Gelegenheit fändest, so was rauszubringen, bitte ergreife sie. Aber viel wichtiger wäre, wenn wir gemeinsam die heutige Situation sorgsam überlegten und gemeinsam eine Brochure wie damals herausbrächten. Ich meine CARNAP, FRANKPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank, NEURATH etwa. Unter Mitwirkung von HEMPELPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, NEIDERPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger und anderen jüngeren Kämpfern, die uns dies und jenes über uns besser sagen werden als wir selbst, die wir doch aus unserer eigenen Vergangenheit herkommen, also alles unter einer bestimmten Perspektive sehen. Ich würde meinen, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen, also eine Sammlung von Aufsätzen (An was für Themen denkst Du da? Und an wen denkst Du da?) und eine zusammenfassende Darstellung. Schade, daß wir noch keinen Biologen haben und keinen Psychologen, so müssen wir drei unsere jeweiligen „Mitinteressen“ verwenden, um so eine Übersicht zu geben, die doch von der Logik-Mathematik bis zur Soziologie reichen soll. Was meinst Du dazu. Ich fände diese zweite Gesamtübersicht auch in Hinblick auf die Enzyklopädiearbeit sehr gut. FRANKSPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank Mitwirkung hat den großen Vorteil, daß er sehr für „mittlere“ Haltung ist und gegen jede forcierte Überspitzung von Problemen. Andererseits ist er, glaube ich, nicht sehr für solche Art „kollektive“ Arbeit.

Aus meiner jetzigen USA Reise wurde nichts, weil die Einnahmen nicht groß genug waren, um in der Abwesenheit (wie es ursprünglich in Aussicht genommen war) mein Institut zu sichern. Ich kann nicht wegfahren, ohne daß ich dafür, daß ich weg bin, einen Ersatz leiste, zumal wenn hier alles von Woche zu Woche besteht. Es ist ein lächerlich kleiner Betrag, den das ganze Institut monatlich benötigt, 600 DOLLAR (also der Gehalt eines einzigen besser bezahlten USA Angestellten), da ist mein Gehalt inklusive! Aber wir existieren kaum mehr und wissen nicht, wies weiter geht, trotz positiver Einstellung wichtiger Menschen zu unserer Sache, trotz ständiger „Erfolge“, auch jetzt wieder in pädagogischen Kreisen. So wie ja auch unsere Einheitswissenschaft Erfolg hat – aber das trägt keinen Groschen.

Jetzt steht meine Reise für September in Aussicht. Aber alles noch unbestimmt, weil ja auch in USA nicht viel Geld da ist. 🕮

FrankPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank schreibt mir, daß Du länger in den USA bleibst.aKsl. 27.5. Urlaub gemacht, und an Dekan über Neurath. Da wird ja jetzt die VERTRETUNG aktuell. Bitte vergiß nicht der Universität gründlich nahezulegen, daß ich für die Vertretung in Frage komme, wie Du es seinerzeit vorhattest. Das ist so eine der letzten Chancen, die ich noch habe. Von Prag kommt man leichter irgendwohin, wenn man nur einmal wieder akademisch tätig ist. Hoffentlich entscheidet sich das bald, so daß ich mit aller Kraft mich vorbereiten kann. Der II. Kongreß in Kopenhagen gab mir ohnehin Gelegenheit, wieder ernsthaft einiges aufzufrischen, las nicht ohne Interesse wieder einiges, was dazu gehört. Auch meine eigene Arbeit zur Geschichte der Optik‚ die ich gern in der einfältigen Weise weiterführen und für unsere Betrachtungsweise verwerten möchte. Kennst Du übrigens die Einleitung von D’AlembertPDalembert@D’Alembert, Jean Le Rond, 1717–1783, fr. Mathematiker und Philosoph zur großen Enzyklopädie? Sie ist uns sehr nahestehend. Ich hoffe, wegen der Vertretungssache bald von Dir zu hören.

Ich habe jetzt demaan das Organisationskomitee vorgeschlagen, daß 1937 eine kurze Konferenz in Paris sein soll. Es istbHsl. Einschub. sicherlich nicht zu viel, jedes Jahr eine Zusammenkunft. Für 1937 hat nur RougierPRougier, Louis, 1889–1982, fr. Philosoph Sorge gehabt, daß wir unsere Wirkung verkleinern, wenn wir uns zersplittern. Er meint, wir würden beim internationalen Philosophie-Kongreß wieder als Gruppe eine Rolle spielen. Ich bin sehr für die Konferenz 1937. Kopenhagen wird sehr nett werden, gute Anmeldungen!

Kopenhagen erscheint wahrscheinlich in ERKENNTNIS, wohl als Doppelheft. Ich höre, daß Heft II als Erinnerungsheft erscheint. Und zwar im Mai. Das ist ganz angenehm, weil wir so das volle Kongreßprogramm hineinbekommen.

Buch geht an SCHULTZPSchultz, Henry, 1893–1938, am. Ökonom und Statistiker. Es wäre mir lieb, wenn Du auf TINBERGENSPTinbergen, Jan, 1903–1994, niederl. Mathematiker und Ökonom Besprechung in der Erkenntnis aufmerksam machtest.bKsl. Sonderdruck an mich für Schultz. Er ist ein mathematisch-logischer Mann mit großem Ruf und es ist bemerkenswert, in welchem Maße er zustimmt.

Mit guten Grüßen an Euch beide, hoffend, bald Näheres zu hören

Dein
Nth

Viele Grüße v. MiezePNeurath, Marie, 1898–1986, geb. Reidemeister, auch Reidemeisterin, Mieze, MR, Mary, dt.-brit. Pädagogin und Sozialwiss., Schwester von Kurt Reidemeister, heiratete 1941 Otto NeurathcHsl. Einschub.

Ich korrespondiere eben mit TARSKIPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker über Einfluß der Warschauer auf den Wiener Kreis.1ON 310; die entsprechenden Briefe Tarskis vom 10. Juni und 7. September 1936 sind publiziert in Tarski, „Drei Briefe an Otto Neurath“.1Entsprechende Briefe Tarskis vom 10. Juni und 7. September 1936 sind publiziert in Tarski, „Drei Briefe an Otto Neurath“. Mir wäre sehr wichtig, Deine Meinung zu kennen, da ich doch gelegentlich was darüber in anderem Zusammenhang sagen will.

Meine Impression in Sachen: Entwicklung des LOGISCHEN EMPIRISMUS im Wiener Kreis.

Es war eine Differenz zwischen denen, die „Sprache über Sprache“zulässig erklärten, und die, welche Sprache über Sprache nicht erlaubten (WittgensteinPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph), dabei aber z. B. Komplexität von „Wirklichkeit“ und „Sprache“ verglichen. Ich erinnere mich, daß ich sehr früh mich gegen diesen Standpunkt wandte und jede sozusagen „vorlegitime“ Diskussion über Sprache und Wirklichkeit ablehnte. Ich glaube, daß für HahnPHahn, Hans, 1879–1934, öst. Mathematiker, Bruder von Olga Neurath, verh. mit Eleonore Hahn und auch für Dich unter Einfluß der Typentheorie die Meinung nicht so fern lag, daß Sprache über Sprache legitim sei. Dies alles war doch deutlich und entschieden festgelegt vor der Bekanntschaft mit den Warschauern.

Die Warschauer waren sozusagen das Exempel dafür, daß man das mit Hilfe der METASPRACHE machen kann. Sie protestieren ja gegen „die“ Sprache. Daher haben sie Bedenken gegen die Einheitswissenschaft und ihre Einheitssprache.

Ich sehe aber nicht, daß CARNAP, FRANKPFrank, Philipp, 1884–1966, öst.-am. Physiker und Philosoph, verh. mit Hania Frank, Bruder von Josef Frank, NEURATH, die einigermaßen eine Gruppe bilden in diesem Punkt gegenüber SCHLICKPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick, WAISMANNPWaismann, Friedrich, 1896–1959, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Hermine Waismann usw., was diese antimetaphysische Haltung anlangt, von den Warschauern abhängen, wohl aber vielleicht in den einzelnen Darlegungen. Das mußt Du ja wissen, da Du das als Geschäft betreibst. Also schreib darüber so gut Du kannst. Weißt Du, in welchem Jahr bei Dir der Einfluß der Warschauer wirklich einsetzt?cKsl. am unteren Seitenrand: Tarski in Wien Februar 1930, ich in Warschau Herbst 1930; meine ersten Entwürfe zur Syntax Jan. 1931, sicherlich durch Warschau beeinflußt..

Brief, msl., 2 Seiten, RC 102-52-29 (Dsl. ON 220); Briefkopf: gedr. Mundaneum Institute The Hague mit näheren Angaben, msl. Prof. R. Carnap\,/\,USA und 30. IV. 36.


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