\brief[Neurath an Carnap, Den Haag, 8.~Dezember 1935]% {Otto Neurath an Rudolf Carnap, 8. Dezember 1935}{Dezember 1935}\labelcn{1935-12-08-Neurath-an-Carnap} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{Ich hab Dir gestern noch in aller Eile den Text des Erkenntnis\II{\erkenntnis}-Berichtes\IW{\neuratherster} zur Durchsicht gesendet, vielleicht hast Du Zeit, ihn auf der Bahn zu lesen.\fnE{Neurath, ,,Erster Internationaler Kongreß für Einheit der Wissenschaft in Paris 1935``.} Bitte schick ihn mir rasch zurück, damit ich eventuelle Änderungen verwenden kann. Schreib hinein, streich, was Dir Spaß macht. \cutcn{Ich habe ein zweites Exemplar. Ich habe leider das Material spät bekommen, das ich als Unterlage brauchte. Aber auch die Texte\IW{\berichtphilkong} an Hermann\II{\verlaghermann} sind jetzt erst halbwegs beisammen und gehen ab, so daß die ERKENNTNIS\II{\erkenntnis} etwas Eigenartiges bringt, vor allem ein gewisses Bild von der Diskussion gibt. Erst wollte ich kleinweis alles behandeln, dann kam aber kein Eindruck heraus, nun habe ich in Hinblick auf den knappen Raum lieber einen Mittelweg gewählt und so wird alles lebhafter vor Augen treten und ein wenig von dem Kongreßgefühl auf die Leser übertragen werden -- so hofft der schon etwas müde Autor. Es ist sehr mühsam, ständig alle Texte, alle Notizen über die Diskussion durchsehn und zu einem Teil vor Augen haben und sich ständig überlegen, wie man ein Gemälde entwirft, das geeignet ist, auch Fernerstehende zu interessieren. Es folgt der Anhang, mit Beschlüssen usw. und mit jenen biblio-biographischen Daten, die bisher \gesperrt{nicht} in der ERKENNTNIS\II{\erkenntnis} waren, ergänzt durch eine synoptische Übersicht, die \gesperrt{alle} Stellen angibt, wo man in Wiener Kreis\II{\schlickzirkel} und in den vier ERKENNTNIS\II{\erkenntnis}-Bänden, die Bibliographien bringen (diesen inklusive), Daten über einen Autor findet. Da ich die MORRIS\IN{\morris}- und die AJDUKIEWICZ\IN{\ajdukiewicz}-Bibliographie einbeziehen ließ,\fnE{Gemeint sind die von Morris bzw. Ajdukiewicz erstellten Bibliographien über USA bzw. Polen im Bericht über die Prager Vorkonferenz, \textit{Erkenntnis} 5, 1935.} hat man schon ein recht nettes Hilfsmittel. Nun aber Euch allen \textkritik{}\fnA{\original{zwei}}\zzz beiden viel Glück auf den Weg. Dir -- und damit auch dem logischen Empirismus -- Glück auf den Weg! Sieh zu, daß Du mit Ehren reich beladen ein netter Kerl bleibst! A fine fellow -- Schreib fleißig. Die Kooperation ist wichtig. Jetzt mehr denn je. Nun kommt die Enzyklopädie und die Vereinheitlichung der Symbolik dran, erst mußte der Kongreß\II{\pariserkongress} ,,abgearbeitet werden``. Na ja. Übrigens anbei noch 4 Ergänzungsseiten. Bitte Sie entsprechend einzulegen. Ich war übrigens bemüht, alles so eirenisch wie möglich zu bringen, habe daher die Diskussion SCHLICK\IN{\schlick}-NEURATH\inneurath{}, auf die ja mehrmals angespielt wurde, nicht hervorgehoben. Auch sonst eigentlich keine Schärfe drin -- so hoffe ich. Weitere Sänftigungsvorschläge sehr erwünscht.} Du wirst bald sehn, wie bedenklich es ist 1. daß man uns den Titel Kohärenztheorie angehängt hat -- auf die wir nach ROUGIER\IN{\rougier} loyal verzichtet hätten!\fnE{\labelcn{1935-12-08-Neurath-an-Carnap-Koherenz}Vgl. dazu Neuraths Zusammenfassung der Diskussion in Paris in Neurath, ,,Erster Internationaler Kongreß für Einheit der Wissenschft in Paris 1935``, S.\,400. Zu Schlicks Vorwurf in ,,Über das Fundament der Erkenntnis``, Neurath vertrete eine Kohärenztheorie der Wahrheit, siehe oben, Brief Nr.~\refcn{1934-05-22-Neurath-an-Carnap}. Hempel bezeichnet Carnap und Neurath als Vertreter einer ,,restrained coherence-theory of truth``; Hempel, ,,On the Logical Positivists' Theory of Truth``, S.\,57, Fußnote 6.}\fnSE{Vgl. dazu Neuraths Zusammenfassung der Diskussion in Paris in Neurath, ,,Erster Internationaler Kongreß für Einheit der Wissenschft in Paris 1935``, 400. Zu Schlicks Vorwurf in ,,Über das Fundament der Erkenntnis``, Neurath vertrete eine Kohärenztheorie der Wahrheit, siehe oben, Brief Nr.~\refcn{1934-05-22-Neurath-an-Carnap}. Hempel bezeichnet Carnap und Neurath als Vertreter einer ,,restrained coherence-theory of truth``; Hempel, ,,On the Logical Positivists' Theory of Truth``, 57, Anm.~6.} und 2. daß die wirklich wertvollen Betrachtungen von TARSKI\IN{\tarski} und LUTMAN\IN{\lutman} mit dem Terminus ,,wahr``\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{nein!}}.} herumlaufen.\fnE{Die in den Kongreßakten veröffentlichten Vorträge sind: Tarski, ,,Grundlegung der wissenschaftlichen Semantik``; Kokoszyńska, ,,Syntax, Semantik und Wissenschaftslogik``. Vgl. dazu auch oben, Brief Nr.~\refcn{1935-09-30-Neurath-an-Carnap}.}\fnSE{Die in den Kongreßakten veröffentlichten Vorträge: Tarski, ,,Grundlegung der wissenschaftlichen Semantik``; Kokoszyńska, ,,Syntax, Semantik und Wissenschaftslogik``.} Wenn Du noch kannst, solltest Du dafür einen anderen Namen verwenden. Ich kann mir nicht denken, daß dieser Terminus je zur Klärung dient, wohl aber, daß er ständig Verwirrung stiften wird, und schließlich wollen wir doch der Klärung dienen. Unter wahr versteht man eine (emotionelle, mehr minder) Betonung eines Satzes -- philosophische, religiöse ,,Wahrheiten`` --, die man hat, die ein anderer nicht hat, obgleich etwa die mohammedanischen Sätze ebenso lauten wie die jüdischen, was die Form anlangt usw. usw. Das ist nämlich ,,\gesperrt{wirklich wahr}`` -- so läuft nun mal der reelle Hase. Aber mag es so oder so sein. Ich wills nicht überwerten. Ich wills nur noch einmal recht nett und ernst Dir gesagt haben, weil ich nur schmerzlich es empfinde, was z.\,B. ROUGIER\IN{\rougier} im Schlußwort über die Ver\neueseite{} schiebung der Demarkationslinie zugunsten der Metaphysik sagte.\fnE{Rougier, ,,Allocation finale``, S.\,89: ,,La ligne de démarcation entre le positivisme et la métaphysique nous paraît devoir être considérablement reculée.``} Nun kommt das ,,GEGEBENE`` wieder zu seinem Recht, während doch nur die Sätze neben anderen Dingen behandelt werden \ldots{}\fnE{Vgl. vor allem Rougier, ,,Allocation finale``, S.\,88f., der ein Ergebnis des Kongresses in der Wiedereinsetzung des klassischen Wahrheitsbegriffs sieht, und zwar als ,,\textit{correspondance avec un donné}``.}\fnSE{Rougier, ,,Allocation finale``, 88f.} \cutcn{Bitte sei gut zur Enzyklopädie. Wir werden hier im MUNDANEUM\II{\mundaneum} alles tun, um sie organisatorisch auf die Beine zu bringen. Wichtig ist, daß immer kleine KOMITEES, \gesperrt{nicht Einzelpersonen} für die Koordination sorgen und, wie ich Dir schrieb, die Komitees für die Querverbindungen besonders ausgebaut werden. Bitte sprich in diesem -- uns gemeinsamen Sinne, wie ich aus Deinem Brief entnahm -- mit Morris\IN{\morris} und anderen.} Vielleicht kannst Du was Gutes für mich drüben tun -- es wäre nett und erfreulich. Da ich voraussichtlich, nach einem eben eingetroffenen Telegramm zu urteilen, zu Gastvorträgen über ISOTYPE und Bildpädagogik eingeladen werde, wäre mir auch sonstige Betätigung sehr erwünscht. Grüß mir drüben Feigl\IN{\feigl}, Blumberg\IN{\blumberg}, Lazarsfeld\IN{\lazarsfeld}, Morris\IN{\morris}, und wen\fnA{\original{wenn}} Du sonst siehst, den lieben Nagel\IN{\nagel} mit Frau\IN{\nagelfrau} usw. Bald ist ja halb Europa drüben und halb Amerika kommt regelmäßig zu uns. Denk daran, daß es mir hier sehr dreckig geht und daß jede Art von Beschäftigung, die man persönlich oder institutsmäßig kriegt, ein Vorteil ist. Im übrigen gehts so: ,,behaglich mies``, wie immer. Sehr nett wäre es, wenn mein Büchlein\IW{\neurathcercle}\fnAmargin{Ksl. (über \original{Büchlein}) \original{\textsp{französisches}}.} über den Wiener Kreis\fnEE{Neurath, \textit{Le développement du Cercle de Vienne et l'avenir de l'Empirisme logique}.} bearbeitet in USA erscheinen könnte oder wenn sonst eine bezahlte publizistische Tätigkeit möglich wäre. Alles nicht wahrscheinlich, aber möglich. Ich weise nur auf die Möglichkeiten hin, weil vielleicht einmal der Tag kommt, wo sich eine realisieren ließe. Wichtig wäre, Gelder für die Enzyklopädie zu bekommen. Wir warten auf Fränzchen\IN{\rohfranz}.\fnE{Franz Roh.} Weißt Du Näheres über seine Ankunft? Nochmals viel Glück auf die Fahrt. Gute Grüße von Haus zu Haus } \grussformel{herzlichst Dein\\Otto Neurath} \briefanhang{\textkritikl Viele herzliche Grüße: Ihnen u. Inen\IN{\ina}.\\\indent Mieze\IN{\reidemeistermarie}\\\noindent Baer\IN{\baer} freut sich, Sie drüben begrüßen zu können.\\(Institute for the Advancement of Science, Princeton)\fnSE{Nachbemerkung handschriftlich eingefügt von Marie Reidemeister; der korrekte Name lautet \textit{Institute for Advanced Study}.}\fnEmark\textkritikr\fnAmark}\fnEtext{Der korrekte Name lautet \textit{Institute for Advanced Study}.}\fnAtext{Hsl. Einschub von Marie Reidemeister.}\Apagebreak \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/846149}{RC 102-50-04 (Dsl. ON 220)}; Briefkopf: gedr. \original{Mundaneum Institute The Hague} mit näheren Angaben, msl. \original{Prof. R.~Carnap\,/\,Prag} und \original{8.~Dez. 1935}.}