\brief{Rudolf Carnap an Moritz Schlick, 4. Dezember 1935}{Dezember 1935} %Prag, den 4. Dez. 1935. \anrede{Lieber Schlick!} \haupttext{Besten Dank für Deinen Brief, der mir sehr wertvoll für die Bearbeitung meines MS\IC{\vortragvorkonferenz} ist. Vielleicht hast Du Recht, daß bei Neurath\IN{\neurath} eine Meinungsänderung vorliegt. Darum habe ich den Passus gestrichen, er meine das Richtige und Du habest ihn nur mißverstanden. Übrigens glaube ich aber doch, daß er zwar eine falsche Ansicht gehabt hat, aber nicht die, die Du angegriffen hast (Kohärenztheorie). Im Ganzen dachte ich, gerade Dir durch meine Ausführungen besonders gerecht geworden zu sein, indem ich darauf hinwies, daß Deine Formulierung, \sout{der Sache} die doch bei vielen starke Bedenken hervorgerufen hat, in der Sache recht hat, und nur gegen die Art der Formulierung Bedenken bestehen. Ich habe jetzt diese sachliche Zustimmung noch mehr hervorgehoben. Allerdings auch die Bedenken ausführlicher angegeben, weil ich aus Deinem Brief ersah, daß ich mich zu kurz und mißverständlich ausgedrückt hatte. Da aber andrerseits sich auch N[eurath]\IN{\neurath} beklagte, daß ich ihm nicht gerecht werde, habe ich mich entschlossen, den Hinweis auf Dich und ihn ganz wegzulassen, um ja keinem von Euch beiden Unrecht zu tun. Die Neuformulierung der entscheidenden Seiten schicke ich Dir; ich brauche es nicht zurück, auch das alte MS nicht. Nun zu Deinen sachlichen Einwänden. Hier hast Du mich, wie mir scheint, doch früher und jetzt mißverstanden. Als Feigl\IN{\feigl} in Paris\II{\pariserkongress} Dein MS\IW{} vorlas, überlegte ich immerzu, wozu und gegen wen Du das wohl sagen wollest, da es sich doch unter uns nicht lohnt, gegen Dingler\IN{\dingler} zu polemisieren. Ich wußte keinen andern, der die von Dir bekämpfte Anschauung vertritt, daß die Naturgesetze Konventionen sind. Nun sehe ich aus Deinem Brief, daß das gegen mich gehen sollte. Ich halte aber die Nat[ur]-G[esetze] keineswegs für bloße Konventionen (wie die Festsetzung des Nullpunktes der Temperaturskala). Vielmehr haben sie nach meiner Ansicht, in der wir doch wohl alle übereinstimmen, neben der empirischen auch eine konventionelle Komponente. Ich betone diese nur deshalb, damit sie nicht übersehen wird unter uns Empiristen. Gegen Dingler\IN{\dingler} würde ich natürlich die empirische Seite betonen. Der Unterschied zwischen der Wirklichkeit und ihrer Beschreibung ist mir genauso eine Selbstverständlichkeit wie Dir; wieso meinst Du, daß ich ihn leugne? Du weist auf meinen Satz von der ,,Gestaltung der Wirklichkeit`` hin. Ich sehe nun, daß er tatsächlich zu kurz und mißverständlich formuliert ist. Ich bin Dir dankbar, daß ich durch Dich darauf aufmerksam geworden bin. Wie Du aus den Blättern sehen wirst, habe ich den Gedanken jetzt ausführlicher formuliert. Ich glaube, so wird er klar sein; Du wirst sehen, daß ich nicht die Meinung vertrete, die Du daraus gelesen hattest; allerdings bleibt an dieser Stelle doch noch eine Meinungsdifferenz, weil ich nicht an die restlose Übersetzbarkeit glaube und daher meine, daß auch der Inhalt der Weltbeschreibung in einem gewissen Grade durch die Wahl der Sprachform mitbeeinflußt wird. Das heißt aber gewiß nicht, daß die Wirklichkeit durch die Sprache geschaffen werde. \neueseite{} Was die \uline{unwiderruflichen Sätze} angeht, so schließe ich aus Deinem Brief, daß ich Dich nicht richtig verstanden hatte. Um nun nicht gegen Windmühlen zu kämpfen, habe ich mich entschlossen, diesen ganzen Abschnitt meines MS\IC{\vortragvorkonferenz} zu streichen, obwohl er vielleicht für manche, die Dich so verstanden haben wie ich, aufklärend wirken könnte. Ich muß nun aber gestehen, daß mir auch aus Deinem Brief und aus den Ergänzungen der franz. Broschüre, die ich schon kannte, Deine Auffassung über die Konstatierungen immer noch nicht klar geworden ist. Ich fürchte doch, daß die Nennung meines Namens auf S.\,15 der Broschüre\IW{} ganz in der Nähe der These, die Wahrheit bestehe in einer Übereinstimmung der Sätze untereinander, bei vielen Lesern die Meinung hervorrufen wird, ich verträte diese These. Deine Gegenüberstellung (S.\,45) meiner und Deiner Verwendung des Wortes ,,Satz`` (oder ,,Aussage``) habe ich gar nicht verstehen können. Habe ich recht verstanden, daß Du unter ,,Satz`` die Symbolreihe, insofern sie gewissen Verwendungsregeln unt[e]rworfen ist, verstehen willst? Aber wo ist da der Unterschied? Wenn wir von ,,Satz`` sprechen, meinen wir doch auch immer ,,Satz einer bestimmten Sprache``, und das heißt doch: ,,Satz, der den Regeln der betr. Sprache unterworfen ist``. Ist es ein Unterschied, ob ich sage: ,,Mensch`` soll einen Organismus von der und der Art bezeichnen, oder: ,,Mensch`` soll einen solchen Organismus bezeichnen, insofern er zu andern Organismen in Verwandtschaftsbeziehungen steht? Allerdings willst Du auch die außer-syntaktischen Regeln mitverstehen, die wir innerhalb der Syntax natürlich nicht berücksichtigen. Aber dadurch werden sie von uns weder geleugnet noch übersehen. Ich meine doch nicht, daß die Syntax das Einzige ist, was man über eine Sprache \sout{sage} aussagen kann; ich betone immer, daß man außer den formalen, syntaktischen Aussagen auch psychologische, historische, soziologische usw. über die Sprache machen kann. Es ist schade, daß wir nicht Gelegenheit haben, ausführlich mündlich mit einander zu sprechen. Ich bin überzeugt, es würden sich da viele Unklarheiten über das, was der Andere meint, klären. Kannst Du mir gelegentlich mitteilen, wo und wann Deine Erkenntnislehre\IW{\schlickerkenntnislehre} englisch\IW{} erschienen ist (für Hinweise in den Vorlesungen in Chicago). Falls Du zu meinen Blättern noch Änderungsvorschläge hast, kann ich sie bei der Korrektur noch berücksichtigen. Wir sind jetzt schon sehr im Kramen und Packen, da wir die Wohnung aufgeben und alles zum Spediteur stellen. Mit herzlichen Grüßen und guten Wünschen} \grussformel{Dein\\ R. Carnap} \briefanhang{\textkritik{8.\,12. Sonderdruck hab ich an Hertz\IN{\hertzpaul} gegeben.}\fnA{HSl.}} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/871876}{MS 95/Carn-47 (Dsl. RC 102-70-10)}; Briefkopf: gestempelt \original{Prof. Dr. Rudolf Carnap \,/\, Prag XVII. \,/\, Pod Homolkou 146}, msl. \original{Prag, den 4.\,Dez. 1935}.}