Carnap an Neurath, Prag, 4. Dezember 1935 Rudolf Carnap an Otto Neurath, 4. Dezember 1935 Dezember 1935

Lieber Neurath!

Besten Dank für Deinen Brief v. 24. Nov. und für die Bemerkungen zu meinen MSenB1936@„Von der Erkenntnistheorie zur Wissenschaftslogik“, Actes du Congrès international de philosophie scientifique, Sorbonne, Paris 1935 1, Paris, 1936, 36–41B1936@„Wahrheit und Bewährung“, Actes du Congrès international de philosophie scientifique, Sorbonne, Paris 1935 IV, Paris, 1936, 18–23B1936@„Über die Einheitssprache der Wissenschaft. Logische Bemerkungen zum Projekt einer Enzyklopädie“, Actes du Congrès international de philosophie scientifique, Sorbonne, Paris 1935 II, Paris, 1936, 60–70. Ich habe alles reiflich erwogen und jetzt die Umarbeitung vorgenommen. Besonders bei „Wahrheit u. Bewährung“B1936@„Wahrheit und Bewährung“, Actes du Congrès international de philosophie scientifique, Sorbonne, Paris 1935 IV, Paris, 1936, 18–23 habe ich trotz Zeitmangels noch viel Zeit und Mühe daran gewandt. Da sowohl Du wie SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick sich ungerecht behandelt fühlten‚1Vgl. Moritz Schlick an Rudolf Carnap, 14. November 1935 (RC 102-70-11). habe ich die Hinweise auf Euch gänzlich gestrichen und einfach meine Meinung zur Sache dargelegt. Es scheint mir allzu schwierig, eine Darstellung der historisch vorliegenden Problem- und Diskussionssituation zu geben, ohne Euch beide zu kränken. Denn jeder von Euch meint, der andere habe noch schlimmer unrecht als er eh schon hat, und er selbst mehr recht. Falls Du nun noch Änderungsvorschläge hast, schreib sie auf besonderen Zettel, nicht an den Rand, weil dies das Druckexemplar.

Die Bemerkung über „wahr“ kann ich nicht als Vorschlag formulieren, denn so ist sie nicht gemeint.2Hier und im Folgenden bezieht Carnap sich auf die ausführlichen Bemerkungen Neuraths zur ersten Fassung von „Wahrheit und Bewährung“, RC 110-02-01. Sie ist eine (wie mir scheint ziemlich triviale) Behauptung über den üblichen Wahrheitsbegriff. Den gibt es nach meiner und TarskisPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker Meinung sehr wohl und ziemlich klar abgegrenzt. Daß von „religiösen Wahrheiten“ gesprochen wird, ist kein Zeichen, daß diese Leute eine andre Definition von „wahr“ zugrundelegen (sie haben sicher unausgesprochen genau dieselbe wie wir und alle andern, außer einigen Philosophen wie Dir), sondern nur, daß sie im Irrtum sind, ob das Kriterium erfüllt ist in diesem Fall oder nicht. Die Gründe gegen Deine Definition von „wahr“ hab ich jetzt ganz kurz angedeutet; näher ausgeführt werden sie von LutmanPKokoszynska@Kokoszyńska-Lutman, Maria, 1905–1981, poln. Logikerin in einem MSBKokoszyńska-Lutman, Maria!1936@„Über den absoluten Wahrheitsbegriff und einige andere semantische Begriffe“, Erkenntnis 6, 1936, 143-165 für „Erkenntnis“IErkenntnis, Zeitschrift, sie nennt sie die HempelschePHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel Definition; ich habe MeinerPMeiner, Felix, 1883–1965, dt. Verleger gebeten, Dir später Korrektur des AufsatzesBKokoszyńska-Lutman, Maria!1936@„Über den absoluten Wahrheitsbegriff und einige andere semantische Begriffe“, Erkenntnis 6, 1936, 143-165 zu schicken, vielleicht willst Du ihr dann schreiben; sie nennt das übrigens auch Kohärenztheorie.3Kokoszyńska, „Über den absoluten Wahrheitsbegriff und einige andere semantische Begriffe“. Der Aufsatz nimmt mehrfach Bezug auf Hempel, „On the Logical Positivists’ Theory of Truth“, der Ausdruck „Hempel’sche Definition“ findet sich in der publizierten Fassung allerdings nicht; von der Kohärenztheorie der Wahrheit ist dort S. 149 die Rede (sowie in Kokoszyńska, „Syntax, Semantik und Wissenschaftslogik“, S. 11). Zur Kohärenztheorie (bzw. dieser Bezeichnung) siehe auch unten, Brief Nr.  und dort Anm. .1Kokoszyńska, „Über den absoluten Wahrheitsbegriff und einige andere semantische Begriffe“. Der Aufsatz nimmt mehrfach Bezug auf Hempel, „On the Logical Positivists’ Theory of Truth“, der Ausdruck „Hempel’sche Definition“ findet sich in der publizierten Fassung allerdings nicht; von einer Kohärenztheorie der Wahrheit ist dort 149 die Rede (sowie in Kokoszyńska, „Syntax, Semantik und Wissenschaftslogik“, 11).

Ich habe bei Deiner neuen Formulierung Deines MSB immer noch den Eindruck, daß Du die Bedeutung der Beobachtungen, oder „Fakten“, nicht hinreichend würdigst. Es genügt nicht, über Sätze zu sprechen, in denen von Experimenten und Beobachtungen gesprochen wird, sondern man muß, wenn von Wahrheit oder Bewährung die Rede ist, von den Experimenten und der Beobachtung selbst sprechen!4Diese Kritik an Neurath, „Einzelwissenschaften, Einheitswissenschaft, Pseudorationalismus“, entspricht der auch bereits von Hempel geübten; siehe oben, Brief Nr. .

Da Du meinst, daß meine Darlegungen über die unwiderruflichen Sätze nicht die eigentliche Diskussionsfrage treffen, habe ich diesen ganzen Abschnitt gestrichen. Ich muß allerdings gestehen, daß ich in diesem Punkt Euch beide nicht recht verstehe, weder SchlicksPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick Aufsatz und seine Ergänzungen in der französischen BroschüreBSchlick, Moritz!Sur le fondement de la connaissance5Schlick, Sur le fondement de la connaissance; zu dieser Schrift siehe oben, Brief Nr. , Anm. . noch Deine AufsätzeB und jetzigen Bemerkungen. Hier müßte mal ein klarer Formulierer und guter Versteher, z. B. HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, kommen und den Leuten sagen, was Ihr beide eigentlich meint.

9. Wir sind im schrecklichen Gekrame. Gestern schon 41 Bücherkisten zum Spediteur. Eben kommt Dein MSBNeurath, Otto!„Erster Internationaler Kongreß für Einheit der Wissenschaft in Paris 1935“ über KongreßIKongressfuerEinheit@1. Kongreß für Einheit der Wissenschaft/Congrès International de Philosophie Scientifique, Paris, 16.-21.IX.1935.6Neurath, „Erster Internationaler Kongreß für Einheit der Wissenschaft in Paris 1935“. Will es gern lesen, weiß aber noch nicht wann, vielleicht Bahn oder Dampfer (dann schick ich es von Cherbourg am 16. ab). Heute schicke ich 3 MSeBNeurath, Otto!„Erster Internationaler Kongreß für Einheit der Wissenschaft in Paris 1935“BNeurath, Otto!1936@„Mensch und Gesellschaft in der Wissenschaft“, Actes du Congrès international de philosophie scientifique, Sorbonne, Paris 1935 II, Paris, 1936, 32-40BNeurath, Otto!1935@„Une encyclopédie internationale de la science unitaire“, Actes du Congrès international de philosophie scientifique, Sorbonne, Paris 1935 2, 54-59 von Dir u. 3B1936@„Von der Erkenntnistheorie zur Wissenschaftslogik“, Actes du Congrès international de philosophie scientifique, Sorbonne, Paris 1935 1, Paris, 1936, 36–41B1936@„Wahrheit und Bewährung“, Actes du Congrès international de philosophie scientifique, Sorbonne, Paris 1935 IV, Paris, 1936, 18–23B1936@„Über die Einheitssprache der Wissenschaft. Logische Bemerkungen zum Projekt einer Enzyklopädie“, Actes du Congrès international de philosophie scientifique, Sorbonne, Paris 1935 II, Paris, 1936, 60–70 von mir.7Dabei handelt es sich wohl um alle von Carnap bzw. Neurath in den Kongreßakten veröffentlichten Texten; siehe oben (für Carnap) Brief Nr. , Anm. , bzw. (für Neurath) Brief Nr. , Anm. .

Dir, OlgaPNeurath, Olga, 1882–1937, geb. Hahn, auch Neuräthin und Peterl, öst. Philosophin und Mathematikerin, verh. mit Otto Neurath, Schwester von Hans Hahn und Louise Fraenkel-Hahn und MiezePNeurath, Marie, 1898–1986, geb. Reidemeister, auch Reidemeisterin, Mieze, MR, Mary, dt.-brit. Pädagogin und Sozialwiss., Schwester von Kurt Reidemeister, heiratete 1941 Otto Neurath herzliche Grüße, auch von InaPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap!

Wann kommst Du nach Amerika?

Dein
R. Carnap

Brief, msl., 1 Seite, ON 220 (Dsl. RC 102-50-05); Briefkopf: gedr. Prof. Dr. Rudolf Carnap\,/\,Prag XVII.\,/\,Pod Homolkou 146, msl. Prag, den 4. Dez. 1935.


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