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Lieber Carnap‚
ich will noch ein paar Worte zu Ihrer Antwort auf meine Bemerkungen zu Ihrem Manuskript
Sie müssen bedenken, daß Ihre Ablehnung meiner Wahrscheinlichkeitstheorie der Hypothesen nach außen hin ganz anders aussieht als ein Wunsch, ein paar Verfeinerungen anzubringen. Nachdem eine Beurteilung des Wahrheitsgrades von Hypothesen ja unentbehrlich ist und von der Physik ständig durchgeführt wird, bedeutet die Abtrennung dieses Wahrheitsgrades von der Wahrscheinlichkeit nichts geringeres als die Behauptung, daß es noch einen anderen Wahrheitsmaßstab als den der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Physik gibt; und damit ist allem Mystizismus Tor und Tür geöffnet. Intuition, Ahnungsvermögen des wissenschaftlichen Forschers werden nun in die Physik eingeführt; s. Popper
Wenn Sie meine Behauptung bestreiten, daß das Induktionsprinzip das einzige für die Gewinnung von Zukunftsaussagen notwendige Prinzip darstellt, so scheinen Sie mir dabei vor allem eins zu übersehen: daß ich zeigen konnte, daß das Induktionsprinzip für den Aufbau der Wahrscheinlichkeitsrechnung hinreichend ist. Dies scheint mir der wichtigste Fortschritt meiner Theorie der Wahrscheinlichkeitsrechnung gegenüber den früheren zu sein. Infolgedessen wird meine erkenntnistheoretische Behauptung identisch mit der Behauptung, daß die Physik nur Logik, Mathematik und Wahrscheinlichkeitsrechnung bei ihren Umformungen benutzt. Wer also behauptet, daß neben dem Induktionsprinzip noch andere Prinzipien in der Erkenntnis auftreten, müßte den Nachweis führen, daß die Physik noch Umformungen anderer Art benutzt.
Ich habe den Eindruck, daß Ihre Einwände herrühren aus einer Verwechslung von „Auffindungszusammenhang“ und „Rechtfertigungszusammenhang“. Beim Auffinden von Theorien mag der Physiker ja seine Ahnungen benutzen, so gut wie der Seemann bei der Wettervoraussage. Die Frage aber, ob ein gegebenes Bobachtungssystem eine bestimmte Theorie als günstige auszeichnet, muß allein mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung entscheidbar sein; hier gehören Ahnungsgefühle des Menschen nicht hinein. Daß man die letzteren praktisch noch nicht entbehren kann, ist kein Einwand.
Nun noch ein paar Worte zu Ihrer Prüfbarkeitstheorie. Es ist wahr, daß Sie nur die Sinnhaftigkeit definieren wollen und keine Methode angeben, wie man einen Wahrheitsgrad ermitteln kann, d. h. wie man, bei gegebenen Beobachtungen, die verschiedenen sinnhaften Theorien, die alle mit den Beobachtungen vereinbar sind, nach ihrem Wahrheitsgrad unterscheiden kann. Aber mir scheint eben, daß man die Frage der Sinnhaftigkeit nicht in der Weise von der Frage der Entscheidbarkeit oder Unterscheidbarkeit trennen darf,
Es tut mir wirklich leid, daß ich in Paris
Herzliche Grüße
Ihr
[Hans Reichenbach]
Brief, msl. Dsl., 3 Seiten, HR 013-41-16; Briefkopf: msl. 2. Dezember 1935  /  Herrn Prof. Dr. Rudolf Carnap  /  Prag XVII, Pod Homolkou 146.