Hans Reichenbach an Rudolf Carnap, 2. Dezember 1935 Dezember 1935

Lieber Carnap‚

ich will noch ein paar Worte zu Ihrer Antwort auf meine Bemerkungen zu Ihrem ManuskriptB nachtragen. Wenn ich gesagt habe, bei der Frage der Wahrscheinlichkeit von Hypothesen stütze ich mich nur auf die Konvention, dieselben Dinge mit demselben Namen zu bezeichnen, so ist das gewiß nur eine ungenaue Formulierung; aber sie trifft wenigstens ungefähr das Richtige. Ich will die feinere logische Analyse damit gewiß nicht abschneiden. Aber erst müssen einmal die großen Züge geklärt sein, ehe man an die feineren Einzelheiten gehen kann. Wenn z. B., um bei Ihrem Beispiel der irrationalen Zahlen zu bleiben, die Pythagoräer schon von den Skrupeln der Typentheorie geplagt worden wären, so hätten sie die elementare Theorie der Irrationalzahlen niemals schaffen können. Im übrigen habe ich ja gerade in meiner Theorie eine der Typentheorie entsprechende Unterscheidung durch meine Wahrscheinlichkeit in höherer Stufe eingeführt.

Sie müssen bedenken, daß Ihre Ablehnung meiner Wahrscheinlichkeitstheorie der Hypothesen nach außen hin ganz anders aussieht als ein Wunsch, ein paar Verfeinerungen anzubringen. Nachdem eine Beurteilung des Wahrheitsgrades von Hypothesen ja unentbehrlich ist und von der Physik ständig durchgeführt wird, bedeutet die Abtrennung dieses Wahrheitsgrades von der Wahrscheinlichkeit nichts geringeres als die Behauptung, daß es noch einen anderen Wahrheitsmaßstab als den der Wahrscheinlichkeitsrechnung in der Physik gibt; und damit ist allem Mystizismus Tor und Tür geöffnet. Intuition, Ahnungsvermögen des wissenschaftlichen Forschers werden nun in die Physik eingeführt; s. PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine Popper. Oder es steckt hier noch ein unbekanntes Prinzip, das bisher keiner von uns entdeckt hat; auch Sie selbst können ja kein derartiges Prin🕮zip aufzeigen.

Wenn Sie meine Behauptung bestreiten, daß das Induktionsprinzip das einzige für die Gewinnung von Zukunftsaussagen notwendige Prinzip darstellt, so scheinen Sie mir dabei vor allem eins zu übersehen: daß ich zeigen konnte, daß das Induktionsprinzip für den Aufbau der Wahrscheinlichkeitsrechnung hinreichend ist. Dies scheint mir der wichtigste Fortschritt meiner Theorie der Wahrscheinlichkeitsrechnung gegenüber den früheren zu sein. Infolgedessen wird meine erkenntnistheoretische Behauptung identisch mit der Behauptung, daß die Physik nur Logik, Mathematik und Wahrscheinlichkeitsrechnung bei ihren Umformungen benutzt. Wer also behauptet, daß neben dem Induktionsprinzip noch andere Prinzipien in der Erkenntnis auftreten, müßte den Nachweis führen, daß die Physik noch Umformungen anderer Art benutzt.

Ich habe den Eindruck, daß Ihre Einwände herrühren aus einer Verwechslung von „Auffindungszusammenhang“ und „Rechtfertigungszusammenhang“. Beim Auffinden von Theorien mag der Physiker ja seine Ahnungen benutzen, so gut wie der Seemann bei der Wettervoraussage. Die Frage aber, ob ein gegebenes Bobachtungssystem eine bestimmte Theorie als günstige auszeichnet, muß allein mit den Mitteln der Wahrscheinlichkeitsrechnung entscheidbar sein; hier gehören Ahnungsgefühle des Menschen nicht hinein. Daß man die letzteren praktisch noch nicht entbehren kann, ist kein Einwand.

Nun noch ein paar Worte zu Ihrer Prüfbarkeitstheorie. Es ist wahr, daß Sie nur die Sinnhaftigkeit definieren wollen und keine Methode angeben, wie man einen Wahrheitsgrad ermitteln kann, d. h. wie man, bei gegebenen Beobachtungen, die verschiedenen sinnhaften Theorien, die alle mit den Beobachtungen vereinbar sind, nach ihrem Wahrheitsgrad unterscheiden kann. Aber mir scheint eben, daß man die Frage der Sinnhaftigkeit nicht in der Weise von der Frage der Entscheidbarkeit oder Unterscheidbarkeit trennen darf, 🕮 wie Sie das tun. Die Verbindung dieser beiden Bestimmungen war gerade der Vorzug der älteren positivistischen Theorie, und wir müssen diesen Vorzug in einer verallgemeinerten Theorie in irgendeiner verallgemeinerten Form ebenfalls haben. Sonst sind die von Ihnen als sinnvoll zugelassenen Sätze leer in demselben Sinne wie die Scheinsätze der Metaphysiker, in dem Sinne nämlich, daß man nicht über sie diskutieren kann. Ich glaube deshalb, daß Ihre jetzige Theorie der Sinnhaftigkeit in demselben Maße zu weit ist, wie Ihre frühere zu eng war, während meine Wahrscheinlichkeitstheorie die richtige Mitte einhält. Denn in meiner Theorie ist ein Satz nur sinnhaft, wenn ihm auf Grund von gewissen herstellbaren Beobachtungen ein Wahrheitsgrad zuerteilt werden kann.

Es tut mir wirklich leid, daß ich in ParisIKongressfuerEinheit@1. Kongreß für Einheit der Wissenschaft/Congrès International de Philosophie Scientifique, Paris, 16.-21.IX.1935 keine Zeit hatte, mit Ihnen über diese Dinge zu sprechen; denn ich habe den Eindruck, daß Sie bei Weiterverfolgung Ihrer Gedanken ebenfalls zur Wahrscheinlichkeitstheorie geführt werden. Aber Sie werden ja nun in den nächsten Tagen Ihre Amerikareise beginnen und über den vielen neuen Eindrücken nicht viel Zeit für die andern Dinge haben. Es wäre schön gewesen, wenn wir uns in USA hätten treffen können, aber das ist ja nun leider an der Engherzigkeit meiner hiesigen Behörde gescheitert. Es ist nur gut, daß wenigstens Sie von solchen Beschränkungen frei sind und ich wünsche Ihnen von Herzen für Ihre Reise alles Gute.

Herzliche Grüße

Ihr
[Hans Reichenbach]

Brief, msl. Dsl., 3 Seiten, HR 013-41-16; Briefkopf: msl. 2. Dezember 1935  /  Herrn Prof. Dr. Rudolf Carnap  /  Prag XVII, Pod Homolkou 146.


Processed with \(\mathsf{valep\TeX}\), Version 0.1, May 2024.