Moritz Schlick an Rudolf Carnap, 14. November 1935 November 1935

Lieber Carnap‚

vielen Dank für Deinen Brief und das ManuskriptB1936@„Testability and Meaning“, Philosophy of Science 3 (4), 1936, 419–471 und 4 (1), 1937, 1–40. Ich will versuchen, in aller Kürze einiges dazu zu bemerken, und überlasse es Deinem Urteil und Deinem Takt, ob Du daraufhin an dem MS.B1936@„Testability and Meaning“, Philosophy of Science 3 (4), 1936, 419–471 und 4 (1), 1937, 1–40 noch irgendwelche Änderungen vornehmen willst.

Wie Du in Deinem Briefe bemerkst, habe ich in der französischen BrochureB NeurathsPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath Namen nicht erwähnt. Der Grund dafür liegt in seinem bekannten ArtikelB in der ErkenntnisIErkenntnis, Zeitschrift, in welchem er außer sachlichen Argumenten auch die unsachlichen Bemerkungen brachte, die mir eine direkte Erwiderung unmöglich machten. Da ich ihm auf jenen ArtikelBaHsl. nicht erwidern will, kann ich auch nicht gut seinen Namen nennen.

Deine Befürchtung, der Leser könne meinen, daß meine Kritik Deine Auffassung betreffe, ist, glaube ich, unbegründet, wie Du bei genauerem Zusehen erkennen wirst. Soviel ich sehe, habe ich Deine Ansichten nur an zwei Stellen zitiert, nämlich S. 15, wo Deine Verwerfung des „Absolutismus“ erwähnt wird, und S. 45, wo von Deiner Auffassung der „Sätze“ die Rede ist.

Wenn ich in bezug auf Dein MSB1936@„Testability and Meaning“, Philosophy of Science 3 (4), 1936, 419–471 und 4 (1), 1937, 1–40 zuerst von mehr äußerlichen Dingen sprechen darf, so möchte ich sagen, daß es mir (und nicht nur mir) scheint, als ob Deine Beurteilung der Äußerungen von NeurathPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath und HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel auf der einen Seite und der meinigen auf der andern Seite nicht gerecht ist. Bei N[eurath]PNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath tadelst Du die ungeschickten Formulierungen; er habe aber „vermutlich“ die richtige Auffassung, mit HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel scheinst Du ganz übereinzustimmen; von mir sagst Du, ich habe mich durch meine Formulierung („Vergleich des Satzes mit der Tatsache“) scheinbar tatsächlich zu der „absolutistischen Auffassung“ verleiten lassen, meine Kritik der von N[eurath]PNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath geäußerten Ansichten beruhe nur auf Mißverständnis, an dem allerdings N[eurath]PNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath selbst auch schuld sei. – Demgegenüber glaube ich, daß ich N[eurath]PNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath nicht mißverstanden habe, sondern daß er sich zuerst nicht darüber klar war, daß seine Ansicht mit dem Empirismus unvereinbar sei. Später sah er dies auf Grund mannigfacher Kritik ein und änderte (vielleicht uneingestanden) seine Meinung. So stellte es mir auch NeiderPNeider, Heinrich, 1907–1990, öst. Verleger dar, der doch NeurathPNeurath, Otto, 1882–1945, öst. Philosoph und Sozialwiss., heiratete 1912 Olga Neurath und 1941 Marie Neurath gut kennt und in steter Verbindung mit ihm ist.

Um aber zu dem Wichtigeren zu kommen: sachlich habe ich gegen Dein MSB1936@„Testability and Meaning“, Philosophy of Science 3 (4), 1936, 419–471 und 4 (1), 1937, 1–40 manche Einwendungen; aber ich glaube eigentlich, sie alle schon von vornherein gemacht zu haben, nämlich im 3. Abschnitt der französ[ischen] BrochureB und in dem von FeiglPFeigl, Herbert, 1902–1988, öst.-am. Philosoph, seit 1931 verh. mit Maria Feigl verlesenen KongreßbeitragB, welch letzterer ja nur den Zweck verfolgte, meine Stellung zu Deiner sog. konventionalistischen Auffassung zu charakterisieren (die Bemerkungen über EddingtonPEddington, Arthur Stanley, 1882–1944, brit. Physiker bildeten nur die Einleitung). Indem ich meine dort entwickelten Argumente noch einmal wiederhole, betone ich, daß es mir ganz ungefährlich zu sein scheint, vom „Vergleichen von Sätzen mit Tatsachen“ zu reden, und daß ich nicht das geringste Bedenken trage, von „der“ Wirklichkeit im Singular zu sprechen, mag man das nun „Absolutismus“ nennen oder nicht. Ich bestehe nämlich auf den Unterschied zwischen „Wirklichkeit“ und „Beschreibung der Wirklichkeit“, den Du bewußt zu leugnen scheinst, und ich erkläre ihn folgendermaßen: 🕮

Jede Beschreibung der Wirklichkeit besteht aus Sätzen, d. h. aus bestimmten Folgen von Lauten oder Schriftzeichen. Ob wir die Beschreibung richtig oder falsch nennen, hängt natürlich davon ab, welche Regeln wir für die Verwendung der Zeichen willkürlich festgesetzt haben, also von der konventionellen Grammatik, durch welche die Sätze erst zu Aussagen werden. Es gibt also beliebig viele richtige Weltbeschreibungen, zu jeder aber gehört eine bestimmte Grammatik, und nachdem wir die Grammatik einmal festgelegt haben, ist nichts mehr willkürlich, sondern es steht fest, welche Sätze als wahr zu bezeichnen sind; sie können nur (mit immer größerer Annäherung) entdeckt, nicht aber festgesetzt werden. Diese Tatsache, daß es bei festgelegter Grammatik prinzipiell nur eine richtige Weltbeschreibung gibt, und weiter nichts, wird m. E. sehr gut durch die Redeweise von der Wirklichkeit ausgedrückt. Denn diese Redeweise deutet auf die Invarianz hin, die darin besteht, daß man, wenn man eine Weltbeschreibung in irgendeiner Sprache besitzt, durch bloße grammatische Transformationen die richtige Weltbeschreibung in jeder beliebigen andern Sprache angeben kann. Es ist willkürlich, ob ich das Sternsystem euklidisch oder nichteuklidisch beschreibe; nachdem ich aber z. B. festgesetzt habe, daß Lichtstrahlen als „Gerade“ zu gelten haben, bin ich gebunden, ich habe die euklidische Beschreibung unmöglich gemacht; durch Transformationen kann ich aber jederzeit zu einer solchen übergehen.

Entschuldige, daß ich diese unendlich geläufigen Dinge hier erwähne, aber ich tue es, um darauf hinzuweisen, daß wir uns in den Realwissenschaften und im prakt[ischen] LebenbHsl. überhaupt nur und ganz allein für das invariant Bleibende interessieren, also für das von der Sprache Unabhängige; verschiedene Physiken, die durch Transformationsformeln ineinander übergeführt werden können, unterscheiden sich für den Physiker nur so[‚] wie sich ein englisch geschriebenes Physikbuch von einem französische[n] unterscheidet, d. h. auf eine völlig belanglose Weise. Der Logiker aber interessiert sich gerade eben für diese Unterschiede. Ich glaube immer, daß der Hauptunterschied zwischen uns in Deinem mathematischen und meinem physikalischen Temperament begründet ist.

Zu allen diesen Bemerkungen gibt mir nur der Satz in Deinem MSB1936@„Testability and Meaning“, Philosophy of Science 3 (4), 1936, 419–471 und 4 (1), 1937, 1–40 Anlaß, über den ich mich wirklich gewundert habe: „Die Gestaltung der sog. „Wirklichkeit“ hängt aber, wie wir wissen, von der Struktur der jeweils verwendeten Sprache ab: sie ist z. B. jeweils eine andere im primitiven Denken, in der klassischen Physik, in der Quantenphysik.“ Es ist typisch, daß Du hier von „Gestaltung“ sprichst, wo ich „Beschreibung“ sagen würde. Ich würde nämlich vorschlagen, von „Gestaltung“ der Wirklichkeit etwa beim Bau eines Hauses, beim Anlegen eines Kanals zu reden, den Aufbau einer Wissenschaft, eines Weltbildes aber „Beschreibung“ zu nennen. Auf jeden Fall scheint mir auf der Hand zu liegen, daß beides etwas total Verschiedenes ist. Niemand wird mich überzeugen, daß es unzweckmäßig und gefährlich wäre, zu sagen, daß der Primitive und der moderne Physiker verschiedene Weltbilder haben, aber in einer und derselben Wirklichkeit leben. Damit soll nämlich weiter nichts gesagt sein als daß es z. B. sinnvoll (und sogar wahr) ist, zu sagen, daß auch die Sonne HomersPHomer, 8. Jh. v.d.Z., gr. Dichter ultraviolette Strahlen aussandte, obgleich HomerPHomer, 8. Jh. v.d.Z., gr. Dichter das in seiner Sprache vielleicht nicht sagen konnte. Im Gegenteil, die von Dir vorgeschlagene Sprechweise scheint mir sehr viele eher irreführend zu sein als die meinige, die wahrhaftig mit sog. „Metaphysik“ nichts zu tun hat. Nimmt man Deine Äußerung wörtlich, so würde sie behaupten, daß die Wirklichkeit durch die Sprache geschaffen werde und daß daher der Primitive und der Quantenphysiker in verschiedenen Wirklichkeiten leben. Man kann das schließlich sagen, aber ich würde einen solchen Satz doch eher bei KeyserlingPKeyserling, Hermann Graf, 1880-1946, balt.-dt. Philosoph oder SimmelPSimmel, Georg, 1858-1918, dt. Philosoph und Soziologe (den man wohl einen relativistischen Metaphysiker nennen muß) erwarten als bei Carnap. 🕮

Ich halte es für möglich und zweckmäßig, zu unterscheiden zwischen der Sprache und dem, was durch die Sprache ausgedrückt wird (der „Wirklichkeit“). Die Sprache ist natürlich konventionell, aber mit der Behauptung, daß die Tatsachen konventionell oder „relativ“ seien, vermag ich dann keinen Sinn zu verbinden. Ich weiß daher ebensowenig, was die mir in die Schuhe geschobene Behauptung heißen sollte, die Tatsachen seinen „absolut“, oder „substantial entities“ (HempelPHempel, Carl Gustav, 1905–1997, dt.-am. Philosoph, verh. mit Eva Hempel, ab 1947 mit Diane Hempel).

Was Du über die konventionelle Festsetzung der „unwiderruflichen Sätze“ sagst, dazu glaube ich im 3. Abschnitt der französ[ischen] BrochureB vorweg Stellung genommen zu haben. Ich habe dort ausdrücklich drei verschiedene Konventionen aufgezählt (S. 49 ff), unter deren Annahme meine „Konstatierungen“ – d. h. deren sprachlicher oder schriftlicher Satz – widerruflich sind. Du legst in Deinem MSB1936@„Testability and Meaning“, Philosophy of Science 3 (4), 1936, 419–471 und 4 (1), 1937, 1–40 wieder nur dar, was ich nicht bestritten habe, daß innerhalb der Wissenschaft alle Sätze zweckmäßig mit solcher Grammatik versehen werden, daß sie widerruflich sind. Mein Hinweis auf die große psychologische Bedeutung der Möglichkeit einer andern Konvention, dem schon mein erster Aufsatz über diese Dinge gewidmet war, bleibt davon ganz unberührt.

Das Toleranzprinzip in der Logik ist sehr schön; bei der Anwendung aber muß man wohl genau aufpassen, daß man nicht Festsetzungen macht, die man durch frühere Konventionen bereits ausgeschlossen hat, oder ohne den Leser darauf aufmerksam zu machen, daß allgemein übliche Festsetzungen nun nicht mehr gelten sollen. Ich glaube, daß dies mit den Mißverständnissen in der Protokollsatz-Kontroverse zu tun hat. Ich kann z. B. sehr wohl festsetzen, daß die Sätze „hier jetzt rot“ und „ich sehe rot“ dieselbe Bedeutung haben sollen, aber damit tue ich dem Sprachgebrauch Gewalt an, denn im zweiten Satze kommt bei der üblichen Verwendungsweise der Wörter die Erwähnung eines menschlichen Körpers (ich) und eines physiologischen Prozesses (sehen) vor, von denen im ersten Satze absolut nicht die Rede ist.

Nun ist dieser Brief doch etwas länger geworden. Da ich aber gerade dabei bin, will ich noch ein Wort zu der Behauptung in meiner Brochure sagen, daß es bei einem analytischen Satz ein und dasselbe sei, seinen Sinn zu verstehen und seine Geltung einzusehen. Ich hatte diese Behauptung schon in dem ErkenntnisIErkenntnis, Zeitschrift-AufsatzB durchaus mit Überlegung hingeschrieben und hatte den naheliegenden Einwand, den Du in den Math. physik. Monatsh.IMonatshefte für Mathematik und Physik, ZeitschriftErgänzung Bd. 42, S. 167 dagegen machstB1935@„Ein Gültigkeitskriterium für die Sätze der klassischen Mathematik“, Monatshefte für Mathematik und Physik 42 (1), 1935, 163–1901R. Carnap: Ein Gleichgültigkeitskriterium für die Sätze der klassischen Mathematik. – In: Monatshefte für Mathematik und Physik, 42 (1935). – S. 163 – 190., nicht einfach übersehen. Daher habe ich den Satz auch trotz Deiner Kritik in der BrochureB stehen lassen. Ich glaube nämlich nach wie vor, daß man in einem bestimmten wichtigen Sinne z. B. von einem mathematischen Satz nur danncHsl. sagen kann, man habe ihn verstanden, wenn man ihn bewiesen hat. Zur Erläuterung müßte ich allerdings sehr wei[t] ausholen und Wittgenstein’sPWittgenstein, Ludwig, 1889–1951, öst.-brit. Philosoph neue Gedanken auseinandersetzen.

Für Deine amerikanische Reise wünsche ich Dir, daß sie recht genuß- und erfolgreich verlaufen möge. LangfordPLangford, Cooper Harold, 1895–1964, am. Philosoph, der Mitarbeiter von LewisPLewis, Clarence Irving, 1883–1964, am. Philosoph, ist seit längerer Zeit hier und gedenkt auch noch zu bleiben. Er sprach davon, daß seine UniversitätIUniversity of Michigan, Ann Arbor MI (Ann Arbor) Dich nach Ablauf Deiner Chicagoer Verpflichtungen einladen wird. Und darauf gehst Du ja nach HarvardIHarvard University, Cambridge MA. Also alles Gute! Bitte schreibe mir gleich, ob ich Dir Dein MSB1936@„Testability and Meaning“, Philosophy of Science 3 (4), 1936, 419–471 und 4 (1), 1937, 1–40 zurückschicken soll; sonst möchte ich es nämlich noch einigen Mitgliedern des Kreises zeigen. Übernächste Woche erwarten wir HeisenbergPHeisenberg, Werner, 1901–1976, dt. Physiker hier. Mit vielen herzlichen Grüßen auch an Deine FrauPCarnap, Ina (eig. Elisabeth Maria immacul[ata] Ignatia), 1904–1964, geb. Stöger, heiratete 1933 Rudolf Carnap

Dein
M. Schlick

Brief, msl., 3 Seiten, RC 102-70-11 (Dsl. MS 95/Carn-55); Briefkopf: gestempelt Prof. Dr. M. Schlick  /  Wien IV.  /  Prinz-Eugenstr. 68, msl. 14. November 1935.


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