Hans Reichenbach an Rudolf Carnap, 3. November 1935 November 1935

Lieber Carnap‚

ich schicke Ihnen heute beifolgend eingeschrieben Ihr Ms. über TestabilityB1936@„Testability and Meaning“, Philosophy of Science 3 (4), 1936, 419–471 und 4 (1), 1937, 1–40 zurück. Ich habe es mit Interesse gelesen, und es freut mich, daß Sie jetzt auch die strenge Forderung der Verifizierbarkeit aufgeben, wie ich das ja schon lange verlangt habe. Es ist dabei unter anderm sehr hübsch, wie Sie zeigen, daß derselbe Schritt, der von L0 zu L1 führt, auch zu den weiteren Sprachen führt. Ich hätte sehr viel im einzelnen zu Ihren Gedanken zu sagen; ich will hier nur ein paar Punkte herausgreifen, die wie ich meine, bei Ihnen noch nicht klar sind, und auf die Sie in Ihrer Weiterführung sicher auch noch selbst hinkommen werden:

1) Ich halte es nicht für richtig, so uneingeschränkt wie Sie es machen, von Konvention und willkürlicher Festsetzung der Sprache zu reden. Eine Konvention liegt nur so lange vor, als man noch gar nichts anderes festgesetzt hat. Aber das ist doch meist gar nicht der Fall. Z. B. muß man sagen: wenn man Aussagen über zukünftige Ereignisse zulassen will, die schon vor Eintreten des Ereignisses in irgend einem Sinne als richtig oder unrichtig bewertet werden sollen, dann muß man das Postulat der strengen Verifizierbarkeit aufgeben. Oder auch wenn man den Begriff des Naturgesetzes in dem Sinne beibehalten will, wie er in der Physik tatsächlich gehandhabt wird, dann muß man die Forderung der strengen Verifizierbarkeit aufgeben. Das sind aber Zusammenhänge von entscheidender Bedeutung. Der von Ihnen behauptete konventionelle Charakter bezieht sich also nur darauf, daß es natürlich eine willkürliche Entscheidung ist, ob man überhaupt Zukunftsaussagen machen will; das kann man natürlich keinem Menschen vorschreiben, so wenig man ihm vorschreiben kann, Wissenschaft zu treiben. Aber da die meisten Menschen eben doch Zukunftsaussagen machen möchten, und die sogar für das praktische Leben brauchen, so ist der oben genannte nicht-konventionelle Zusammenhang für sie viel wichtiger, als die Willkür in der Entscheidung, ob sie Zukunftsaussagen machen wollen oder nicht. 🕮

Dies ist stets der Gesichtspunkt bei meiner Darstellung der Sachlage gewesen, und ich hielte es für gut, wenn Sie in Ihrer Darstellung etwas Ähnliches sagen würden. Denn Sie kommen sonst leicht in den Verdacht eines sinnlosen Konventionalismus, wie ihn z. B. Dingler vertritt, und ich glaube gar nicht, daß Sie das wollen.

Das Entsprechende gilt auch für Ihre Bemerkung in bezug auf meine Wahrscheinlichkeitstheorie der Zukunftsaussagen. Sie verweisen in Ihrem Manuskript auf Ihre Bemerkung in Ihrer RezensionB1935@„Rezension von Karl Popper, Logik der Forschung“, Erkenntnis 5, 1935, 290–294 zu PopperPPopper, Karl Raimund, 1902–1994, öst.-brit. Philosoph, verh. mit Josefine PopperBPopper, Karl R.!1935@Logik der Forschung, Wien, 1935, wonach es sich hier um eine Konvention handelt. Das halte ich auch wieder für ganz irreführend. Es ist natürlich eine Konvention, daß man dieselben Dinge mit demselben Namen bezeichnen soll; aber wenn man das einmal festgesetzt hat, dann läßt sich zeigen, daß die Wahrscheinlichkeit wissenschaftlicher Aussagen mit demselben Namen bezeichnet werden muß, wie die Wahrscheinlichkeit beim Würfelspiel. Die Konvention betrifft also auch hier nur eine sehr allgemeine und von überall zugestandene Festsetzung, dahinter aber steht die Sachbehauptung, daß es sich hier um gleichartige Dinge handelt.

2) Sie sind nun also zu der Ansicht übergegangen, daß die Beziehung zwischen den sog. wissenschaftlichen Tatsachen keine tautologische Umformung ist. Wenn ich den jetzt von Ihnen zugelassenen Zusammenhang abgekürzt formulieren darf, so ist es der, daß ein wissenschaftlicher Satz nur streng verifizierbare Konsequenzen zu haben braucht, aber nicht selber streng verifizierbar zu sein braucht. Es scheint mir nun, daß diese Forderung zwar notwendig, aber nicht hinreichend ist, um für die Wissenschaft ein Verfahren abzugeben. Denn es gibt stets sehr viele Theorien, die alle mit einem gegebenen Erfahrungsbestand vereinbar sind, aber sich in bezug auf zukünftige Erfahrungsbestände unterscheiden, und die Wissenschaft braucht ein Kriterium, zwischen diesen Theorien eine Auswahl zu treffen, schon ehe die zukünftigen Erfahrungsbestände eintreten. Nach meiner Theorie ist dieses Kriterium das Induktionsprinzip. In ParisIKongressfuerEinheit@1. Kongreß für Einheit der Wissenschaft/Congrès International de Philosophie Scientifique, Paris, 16.-21.IX.1935 haben Sie mir eingewandt, daß das Induktionsprinzip nicht hinreichend sei; ich halte diesen Einwand nicht für richtig. Aber in Ihrer jetzigen Theorie haben Sie ja nicht einmal ein derartiges Kriterium, sodaß der von Ihnen in Paris gegen mich erhobene Einwand Ihre eigene Theorie viel stärker trifft. 🕮

Ich habe den Eindruck, daß Sie bei weiterem Ausbau Ihrer Gedankengänge immer mehr in ähnliche Überlegungen hineingeführt werden, wie ich sie vertrete; denn Ihre Theorie der unvollständigen Entscheidbarkeit würde sonst zu leer sein. In Ihrem ArtikelB1936@„Testability and Meaning“, Philosophy of Science 3 (4), 1936, 419–471 und 4 (1), 1937, 1–40 treten ja bereits Andeutungen nach dieser Richtung auf. Z. B. sagen Sie, daß die Sicherheit der Bestätigung wächst, wenn immer mehr Beobachtungen der Theorie entsprechen; das ist aber nichts anderes als eine Anwendung des Induktionsprinzips.

3) Endlich scheint mir noch eine Schwierigkeit Ihrer jetzigen Theorie zu bestehen. Wie können Sie jetzt eigentlich solche Aussagen wie die von DrieschPDriesch, Hans, 1867–1941, dt. Biologe und Philosoph über die Entelechie ausschalten? DrieschPDriesch, Hans, 1867–1941, dt. Biologe und Philosoph wird behaupten, daß seine Theorie natürlich auch beobachtbare Konsequenzen zuläßt. Ich vermute, daß Ihnen hier ein Ausbau Ihrer Theorie vorschwebt, würde es aber für gut halten, wenn Sie das irgendwie darstellen würden.

Ich habe selbst in einem AufsatzB, den ich im Sommer geschrieben habe und der jetzt in Amerika herauskommen wird, eine Theorie entwickelt, die diese Schwierigkeit auf die folgende Weise vermeidet. In der alten positivistischen Theorie waren die leeren Aussagen dadurch ausgeschaltet, daß man sagte: zwei Aussagen, die von allen beobachtbaren Tatbeständen stets in gleicher Weise als wahr oder falsch entschieden werden, haben den gleichen Sinn. Dafür habe ich jetzt gesetzt: zwei Aussagen, denen durch alle beobachtbaren Tatbestände stets die gleiche Wahrscheinlichkeit erteilt wird, haben den gleichen Sinn. Sie müssten wohl etwas Ähnliches für Ihre Theorie anwenden; doch wird das schwierig, wenn Sie den Wahrscheinlichkeitsbegriff nicht benutzen. Denn es genügt nicht, wenn Sie sagen, daß die beobachtbaren Konsequenzen immer die gleichen sein sollen; es kommt auch darauf an, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Konsequenz aus der Theorie folgt bezw. mit welcher Häufigkeit sie eintritt.

So, das sind nur ein paar Anmerkungen und mündlich ließe sich das besser besprechen. Aber ich möchte noch einmal sagen, daß ich mich sehr freue, daß unsere Auffassungen von dem Sinn wissenschaftlicher Aussagen sich so viel näher gekommen sind. Ich will Ihnen meinen amerikanischen AufsatzB, der im Journal of PhilosophyIJournal of Philosophy erscheint, sofort zuschicken, wenn ich ihn habe.

Die Pariser TagungIKongressfuerEinheit@1. Kongreß für Einheit der Wissenschaft/Congrès International de Philosophie Scientifique, Paris, 16.-21.IX.1935 war wirklich sehr schön und sicher 🕮 für unsere Sache ein guter Erfolg. Wenn wir zurückdenken, wie wir ganz als Vereinzelte mit unseren Arbeiten einmal angefangen haben, so dürfen wir schon über diese Wirkung recht froh sein. Ich glaube auch sicher, daß Sie in Amerika guten Erfolg haben werden, und es tut mir nur leid, daß ich dort nicht mitmachen kann.

An Wertheimer schickt wohl jeder am besten seine Bücher persönlich. Oder will er auch die Erkenntnis haben?

Was Sie über Paul Hertz schreiben, entspricht ganz meiner Auffassung. Es ist schade um ihn. Sein Manuskript will ich gern, sobald als irgend möglich veröffentlichen, doch geht es erst im nächsten Jahrgang, da das letzte Heft von Jahrgang V ganz durch den Pariser Kongreß besetzt ist.

Das ManuskriptB von Dina SztejnbargPSztejnbarg, Dina, 1901-1997, poln. Philosophin, später verh. mit Tadeusz Kotarbiński liegt noch bei mir. Ich hatte gehofft, daß es langsam in der Versenkung verschwinden würde, weil es nicht sehr triefsinnig ist. Ich will es mir jetzt noch einmal wieder durchsehen und mit Frl. SztejnbargPSztejnbarg, Dina, 1901-1997, poln. Philosophin, später verh. mit Tadeusz Kotarbiński korrespondieren.

Meine WahrscheinlichkeitslehreBReichenbach, Hans!1935@Wahrscheinlichkeitslehre. Eine Untersuchung über die logischen und mathematischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Leiden, 1935 ist im Autorenpreis wegen des Portos kaum billiger als im Ladenpreis. Das gebundene Exemplar kommt im Autorenpreis auf 10 holl. Gulden, im Ladenpreis, glaube ich, auf 11 1/2 holl. Gulden. Damit aber keine Verzögerung eintritt, will ich das BuchBReichenbach, Hans!1935@Wahrscheinlichkeitslehre. Eine Untersuchung über die logischen und mathematischen Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung, Leiden, 1935 für Sie bestellen und an Ihr Seminar schicken lassen. Bitte wollen Sie dann den Betrag von 21 Schweizer Franken überweisen lassen an mein persönliches Postscheckkonto Zürich VIII/22640.

Ich reise jetzt für eine Woche nach Athen, wo mich die UniversitätIUniversität Athen zu einem Vortrag eingeladen hat, und bin erst am 15. November wieder in Istanbul.

Für Ihre Amerikareise meine besten Wünsche.

Ihr
[Hans Reichenbach]

P.S. Ich schicke Ihnen gleichzeitig ein ManuskriptB von Katsumi NakamuraP nebst Begleitbrief von Prof. KraussP aus Tokio. An sich würde ich gern ein japanisches Manuskript nehmen. Der Text ist ziemlich fürchterlich. Glauben Sie, daß wir es verantworten können, hier den Gesichtspunkt der Internationalität über den der Vernünftigkeit zu setzten? Ich möchte Ihnen die Entscheidung überlassen. Im negativen Falle schicken Sie bitte Brief und Manuskript an MeinerIVerlag Meiner zurück und schreiben Sie ihm deshalb.

Brief, msl. Dsl., 4 Seiten, HR 013-41-18; Briefkopf: msl. 3. 11. 35  /  Herrn Prof. R. Carnap  /  Prag, XVII, Pod Homolkou 146.


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