\brief{Carl Gustav Hempel an Rudolf Carnap, 27. Oktober 1935}{Oktober 1935} %Brüssel, den 27.10. 35, \anrede{Lieber Carnap,} \haupttext{in den letzten Tagen habe ich, mit großer Freude und nochmal ganz von vorn, Dein MS\IC{} gelesen; hoffentlich kommen diese äußerst wichtigen Überlegungen bald zur Veröffentlichung! Der Aufsatz\IC{} erscheint doch wohl auf einmal in der Phil[osophy] of Science?\II{\philosophyofscience} -- Anliegend schicke ich Dir eine Liste mit Anmerkungen, die großenteils rein technischer Art sind, abgesehen besonders von Punkt\,8, der mir sachlich wichtig zu sein scheint; ich glaube, daß z.\,B. Grelling\IN{\grelling} in Lustin auch schon so ähnlich[e] Bedenken hatte. -- Du fragtest in Lustin noch nach meiner Meinung darüber, ob man vielleicht die Ausdrücke ,,verifiable``, ,,falsifiable``, ,,completely testable`` ganz streichen und stattdessen ,,bewährbar``, ,,erschütterbar`` usw. einführen solle. Obwohl ich N[eura]ths\IN{\neurath} Tendenzen in diesem Zusammenhang verstehe und in gewißem Grade mitmachen würde, so habe ich in der gegenwärtigen Situation doch gewiße Bedenken, das radikale Verfahren zu befürworten: erstens nämlich würde es vermutlich sehr mühsam sein, den ganzen Aufsatz unter diesem Gesichtspunkt zu modifizieren, und zweitens scheint es mir schwierig, die formalen Überlegungen über die Nachprüfbarkeit von Operatorsätzen u.\,ä. unter Bezugnahme auf solche vagen Ausgangsbegriffe durchzuführen. N[eura]th\IN{\neurath} tobt natürlich, wenn er solche Argumente hört, aber ich sage ihm andererseits: wenn man alle Begriffe und Sätze der Sprache, über die man logische Untersuchungen macht, so vag und schmierig voraussetzt, wie N[eura]th\IN{\neurath} es gern will, dann ist eigentlich kein Ansatzpunkt für die mindeste logische Analyse mehr aufzutreiben. (Die von N[eura]th\IN{\neurath} zugelassene Sprache wäre syntaktisch so zu charakterisieren: Die Sätze der Sprache sind schmierige Ballungen, und keine Umformungsregel ohne Ausnahme.) (Dabei scheint mir N[eura]th\IN{\neurath} durchaus recht zu haben mit der Bemerkung, daß man durch Zugrundelegen ungeeigneter Modelle sich viele Einsichten versperren kann. Fragt sich nun: Ist die Logik in der von Dir vorausgesetzten Form ein ungeeignetes Modell, und was kann so eine Behauptung, strenggenommen, bedeuten?) \neueseite{} Das MS\IC{} und vielleicht gleichzeitig das geliehene Buch\IW{} von Jung\IN{\jung} gehen morgen oder Dienstag ab, da ich sie zum Postamt bringen muß und nicht einfach in den Kasten werfen kann. Noch sitze ich allein hier, aber Donnerstag will Eva\IN{\hempelfrau} nun zurückkommen; sie ist ja nun in Berlin und hat sehr anstrengende Tage hinter und vor sich; u.\,a. dreimal nach Buch fahren (reine Fahrzeit von Haus zu Haus 2 Stunden), dort mit meinen Eltern\IN{\hempeleltern} reden (es hat alles gut geklappt zu meiner Freude; also nun scheinen ja die psychologischen Schwierigkeiten in diesem Zusammenhang beseitigt zu sein) und Möbel und Bücher aussuchen und packen; ferner in W[ann]see Möbel aussuchen, Maler und Tapezierer in Betrieb bringen, Bezugstoffe besorgen und alles aufarbeiten lassen, mit dem Spediteur verhandeln, der die Bücher und die Wannseer Sachen nach M[önchen]-Gladbach schickt von wo sie mit den dort dazukommenden nach hier gehen. Ferner auf dem Bucher und auf dem Wannseer Polizeibüro bescheinigen lassen, daß die Sachen ausgeführt werden dürfen, und die Unterschriften der Polizeibeamten in zwei weiteren Polizeibüros: Steglitz und Pankow (90 Minuten Fahrzeit eine Strecke) beglaubigen lassen; eine Beglaubigung dieser Beglaubigungen ist bis auf weiteres nicht erforderlich. Ferner natürlich endlose Besuche bei Verwandten und Bekannten -- dies freilich nicht etwa aus reinem Familienpflichtbewußtsein, sondern weil es ihr auch Freude macht. Gleichzeitig sind aber Evas\IN{\hempelfrau} Eltern im Begriff, den Umzug in das kleine Haus, das sie gebaut haben, vorzunehmen -- also Ihr könnt Euch denken, was das für ein Durcheinander ist! Ich habe jetzt die Dissertation\IW{} von Strahl\IN{} hier und will einmal sehen, welchen Eindruck ich bezgl. Veröffentlichbarkeit in ,,Erk[enntnis]``\II{\erkenntnis} bekomme. O[ppenheim]\IN{\oppenheim} hat sich kürzlich Schächters\IN{\schaechter} Buch\IW{} zur Ansicht kommen lassen; ich habe ihm zugeraten, es zu kaufen, da wir uns ja schließlich viel mit sprachanalytischen Sachen beschäftigen. Da ich es bisher nur in unaufgeschnittenem Zustand durchgeblättert habe, hab ich nur einen ganz ungefähren Eindruck; sehr lobendes Vorwort von Schlick\IN{\schlick}; anscheinend vieles, was Wittgenstein\IN{\wittgenstein} neuerdings treibt und für wichtig hält (inhaltlicher Zusammenhang mit gewißen Andeutungen über Wittgensteins\IN{\wittgenstein} neuere Entwicklung, die mir Feigl\IN{\feigl} in Paris\II{\pariserkongress} machte); \uline{vielleicht }Dogmatismus der einen Sprache. Habt Ihr es schon genauer angeschaut? Viele herzliche Grüße und alles Gute Dir und Ina!} \grussformel{Dein\\ Carl G. Hempel} \ebericht{Brief, msl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/848309}{RC 102-14-40}; Briefkopf: msl. \original{Brüssel, den 27.10.35}.}