Rose Rand an Rudolf Carnap, 20. Oktober 1935 Oktober 1935

Sehr geehrter Herr Professor‚

Ich danke Ihnen sehr für die Aufmunterung zum Schreiben des AufsatzesB über KotarbinskiPKotarbiński, Tadeusz, 1886–1981, poln. Philosoph. Ich habe auch im Sommer den Stoff zum großen Teil bearbeitet, mußte eine Zeit lang unterbrechen, mache mich aber jetzt wieder daran. Ich hoffe bald damit fertig zu werden.

Ich möchte Ihnen jetzt über den SommerzirkelISchlick-Zirkel, Wiener Kreis einiges mitteilen. Ich beschränke mich hauptsächlich darauf, Prof. SchlicksPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick Ansicht über die Konstatierungen im Wesentlichen zu referieren und nur vereinzelte Eindrücke wiederzugeben, die bei der Diskussion gemacht wurden.

Prof. SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick meint: Das Kriterium der Wahrheit weist darauf hin, daß es Beobachtungen gibt. Wir bleiben bei Sätzen stehen wie „hier jetzt blau“. Dieser Satz ist auch dann wahr, wenn physikalisch nichts vorliegt. Die Konstatierungen sind die sichersten Sätze.

TarskiPTarski, Alfred, 1901–1983, poln.-am. Mathematiker und Logiker meint, daß der naive Mensch als die sichersten Sätze, Sätze über Dinge ansieht, und doch wissen wir, daß sie unsicher sind. Ebenso könnte es bei Konstatierungen der Fall sein.

SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick meint weiter: Das „hier“, „jetzt“ bei einer Konstatierung wird nicht auf ein Koordinatensystem bezogen. Das Wort „ich“ soll in der Konstatierung gar nicht vorkommen. Denn „ich“ bedeutet Körper. Man muß das Logische vom Empirischen trennen und es ist für die Logik gleichgültig, ob es Subjekte gibt oder nicht.

Als Ausdruck einer Konstatierung könnte man z. B. das Wort „blau“ verwenden und es ist Sache der Konvention, diesen Ausdruck noch als Satz zu bezeichnen oder nicht.

Statt der Worte könnte man in der Konstatierung z. B. Täfelchen verwenden. Es kommt auch gar nicht darauf an, ob die Konstatierungen formuliert sind oder nicht. (Also durch irgendwelche Zeichen beschrieben meine Bem.) Hier wird der Einwand gemacht, daß dann die Konstatierungen keine Sätze, sondern Erlebnisse wären, was Schlick zögernd zuzugeben scheint.

SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick sagt dann: Die Art der Verifikation der Konstatierungen in unserer Welt ist die, daß ich allein nachsehe.

Das Wort Verifikation kann eigentlich nur für die Konstatierungen sinnvoll gebraucht werden. Man könnte auch andere Konventionen der Verifikation in der Logik treffen, die Frage ist nur, ob sie zweckmäßig sind und nicht allzusehr gekünstelt. Unsere Sprache hat eben solche Sätze, wie „hier jetzt blau“, sie hat also gewisse Konventionen getroffen.

Die Konstatierungen dienen nicht zur Mitteilung, obzwar sie verstanden werden, wenn sie gesagt werden. Hier wird bemerkt, daß die Konstatierungen dann intersubjektive Sätze sind und also ihre Wahrheit durch intersubjektive Kriterien festgestellt werden müßte.

Dies aber gibt SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick nicht zu; er sagt: Die Mitteilungen, die die Form von Konstatierungen haben, haben eben nur die gleichen Laute mit den Konstatierungen gemeinsam, die Bedeutung der Laute aber ist verschieden.

Bei den Konstatierungen können Fälle von Falschheit vorkommen. (Denn für sinnvolle Sätze müssen sowohl für ihre Wahrheit als für ihre Falschheit Bedingungen angegeben werden, und dies ist auch der Fall bei den Konstatierungen.) Dies sind Lüge und Irrtum. Wann eine Lüge vorliegt, kann SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick, wie er sagt, noch nicht angeben. Irrtum liegt dann vor, wenn die Wortregeln schlecht gebraucht werden. In diesem Falle liegt noch gar kein Satz vor, denn Satz ist nur dasjenige Wortgebilde, für dessen Worte Regeln der Verwendung feststehen, und nicht im bloßen Wortgebilde. 🕮

Da die Konstatierungen nur für den Moment gelten, für den sie ausgesprochen werden, kommt Erinnerungstäuschung nicht in Frage.

Es hat keinen Sinn an den Konstatierungen zu zweifeln, denn hier liegt ein Zweifel anderer Natur vor, wie bei anderen Sätzen. Hier kann man nur zweifeln, ob die Wortregeln gut gebraucht wurden. – Bei Konstatierungen kann man nicht das Wort „vielleicht“ anwenden.

Hier bemerkt Prof. MengerPMenger, Karl, 1902–1985, öst.-am. Mathematiker, verh. mit Hilda Menger: auch bei gewöhnlichen Behauptungssätzen kann man nicht sagen: „ich zweifle, daß…“ Dies würde nämlich bedeuten: „ich zweifle und ich zweifle nicht…“ was ja gegen die Logik verstoßen würde.

Es wurde auch bemerkt, daß es Geisteskranke gibt, die an allem zweifeln, also auch an solchen Sätzen, wie es die Konstatierungen sind. Darauf wird erwidert, daß manche Geisteskranke auch sagen könnten, „ich gehe und ich gehe nicht“, ohne daß ein Logiker daraus Konsequenzen ziehen würde.

Es wird auch nach dem Verhältnis zwischen Konstatierungen und den anderen Sätzen gefragt, aber SchlickPSchlick, Moritz, 1882–1936, dt.-öst. Philosoph, verh. mit Blanche Guy Schlick geht in der Diskussion nicht darauf ein.

Ich wollte Sie noch fragen, ob Sie Ihren Pariser VortragB niedergeschrieben haben? Wenn Sie ein freies Exemplar hätten, würde ich Ihnen dafür dankbar sein. –

In der Hoffnung, daß es Ihnen gut ergeht, schließt

hochachtungsvoll
Rose Rand

Brief, msl., 2 Seiten, 126/#Ran-2; Briefkopf: msl. Rose Randan Carnap  /  Wien, den 20. Oktober 1935.


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