\brief{Otto Neurath an Rudolf Carnap, 22. August 1935}{August 1935} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{ Also mein Artikel\IW{\neurathpseudo} über Popper\IN{\popper} geht all right. Wenn ERKENNTNIS\II{\erkenntnis} ein Oktoberheft macht, müßte sie über den Kongreß\II{\pariserkongress} berichten. Ich bin daher \gesperrt{sehr} dafür, daß ein Vor-Kongreßheft im September zum Kongreß\II{\pariserkongress} kommt und das Nachkongreßheft, sagen wir, Anfang November. In diesem Septemberheft müßte auch das Programm gedruckt werden.\fnE{Dieses Programm erschien in Heft 5 von \textit{Erkenntnis} 5, 1935, S.~301--304, am 7.~September.} Wir müssen jetzt rasch ein Programm hinausbringen -- das natürlich noch etwas geändert werden kann. Aber ich beschränkte mich bei allen Änderungen auf ein Minimum, weil ich sah, daß, wenn man anfängt viel zu ändern, alles in Unordnung kommt. Rougier\IN{\rougier} wußte von seinen Leuten, was sie wollen, Bruno de Finetti\IN{} will sich mit Reichenbach\IN{\reichenbach} auseinandersetzen, Petiau\IN{} muß mit Destouches\IN{} beisammen bleiben usw. usw. Ich sende Dir die jetzige Fassung, die folgende Grundsätze einhält: Das in der Erkenntnis\II{\erkenntnis} publizierte Programm\fnE{\textit{Erkenntnis} 5, 1935, S.~295f. (Heft 4 vom 31.~Juli).} möglichst wenig geändert. Bei Verschiebungen möglichst nach vorn verschoben. Nur die \gesperrt{zweite} Wahrscheinlichkeitsdebatte (Mehrwertige Logik) muß hinter die erste kommen, die wieder sollte anschließen an die Induktion, Empirie, Wahrheit, Bewährung usw. und die wieder an Pseudoprobleme usw. mit Tarski\IN{\tarski} usw. Ich hoffe, es ist jetzt einigermaßen gut geworden. Es war sehr mühsam. Dabei ständige Neuanmeldungen, um derentwillen man aber nicht alles auf den Kopf stellen kann. Aber Morris Cohen\IN{\cohenmorris} -- der wohl nur paper sendet -- wird wohl irgendwo an erster Stelle stehen müssen, vor Schlick\IN{\schlick}, da er als außereuropäischer Gast aufzufassen ist und Schlick\IN{\schlick} nicht kommt. Sonst hätte man für Schlick\IN{\schlick} einen anderen Platz finden müssen. Es sind übrigens so viele interessante Sachen, daß es unmöglich ist, die Konkurrenz von Vorträgen sogar auf ähnlichen Gebieten zu vermeiden. Ich habe mich in dieser Hinsicht mit Rougier\IN{\rougier} schon sehr abgemüht. Es ist ja eine ganz erfreuliche Sache. \neueseite{} Ich nahm an, Du hättest den Plan vor Dir\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{den hatte ich auch}}.} -- dann müßten meine expressionistischen Exklamationen ungefähr den Weg zeigen, der vor uns lag -- um dies pathetisch auszudrücken. Da aber ohnehin immer jemand unzufrieden sein wird, muß man froh sein, daß wenigstens die großen Debatten gut gelingen werden -- so hoffe ich. Wenn Du ganz dringenden Wunsch hast, schreib es. Wir werden Dich als ersten Redner zur Tarski\IN{\tarski}-Lutman\IN{\lutman}-Diskussion vormerken. Ich möchte nicht zu viel ändern. Rougier\IN{\rougier} ist da großzügiger -- aber ich fürchte immer die zahllosen Verstimmungen. Jetzt ist Prinzip, daß, wer am ersten Tag vor dem ganzen Kongreß\II{\pariserkongress} spricht, in den nächsten drei Tagen es nicht wieder tut. Nur beim letzten Tag ist eine Ausnahme, weil es sich sozusagen um Abschluß-Musik ohne Diskussion handelt. Alle braven Leute haben schon RÉSUMÉS geschickt, sogar der sonst so wenig schick-bereite Frank\IN{\frankphilipp}. Ich bitte Dich dringend um die RÉSUMÉS und bald um die Texte. RÉSUMÉ 1 Seite, höchstens 2 Seiten zu je \gesperrt{200} Worten. Wir haben nur an jene das Zirkular geschickt, die wir nicht direkt brieflich erreichten. Da ich nur zwei Reserven vom Programm habe, bitte sende es mir sofort nach Kenntnisnahme zurück. Dein erster Vortrag soll angezeigt werden, wie Du sagst\fnE{Carnap, ,,Von der Erkenntnistheorie zur Wissenschaftslogik``.} -- hoffentlich ist die Vervielfältigung noch nicht fertig. Der Gesamtkongreßbericht\IW{\berichtphilkong} \gesperrt{muß} erscheinen -- das ist ja im Kongreßbeitrag mitbezahlt. Hoffentlich in nicht zu ferner Zeit. Da er in einem französischen Verlag\II{\verlaghermann} erscheinen dürfte,\fnE{Der Kongreßbericht -- \textit{Actes du Congrès International de Philosophie Scientifique} -- erschien schließlich 1936 in 8 Bänden im Verlag Hermann in der Reihe \textit{Actualités Scientifiques et Industrielles}.} schiene mir ein Heft Erkenntnis\II{\erkenntnis} nicht zu viel. Ich glaube nicht, daß im deutschen Sprachgebiet sich viele den Kongreßbericht kaufen, und wir haben das \gesperrt{größte} Interesse daran, daß die Ausführungen dieses Kongresses\II{\pariserkongress} auch in Übersetzung (wenigstens in kurzem Bericht) vorliegen. Die meisten Referate sind französisch! Aber wenn Du meinst, kann man ja ein halbes Heft Kongreßbericht machen. Äußere Dich dazu. Die Ergänzungsbibliographie sollte nur wenig bringen und in möglichst engem Satz. Eventuell kann man daraus auch was Besonderes machen, mit kurzer Einführung, z.\,B. Rougiers\IN{\rougier} Vortrag,\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{ja}}.} und nur die Franzosen. (Denn die Amerikaner hat ja Morris\IN{\morris} schon gebracht, die Polen Ajdukiewicz\IN{\ajdukiewicz}).\fnE{Vgl. den bibliographischen Teil im Bericht der Prager Vorkonferenz, \textit{Erkenntnis} 5, 1935, S.~195--203.} Das muß man überlegen. \neueseite{} Wenn Du sehr nett sein willst, bitte auch Feigl\IN{\feigl} um sein RÉSUMÉ, 1 bis 2 Seiten zu je 200 Worten (Rougier\IN{\rougier} hat in seinem Rundschreiben die alte Ziffer von 400 Worten reduziert, weil wir zu viel RESUMES haben -- ungefähr 100). Auch den Text soll er bald senden. Wir haben schon ziemlich viele Texte. Ich selbst bin nicht der bravste, weil ich am 1. Sept. hier einer internationalen Konferenz der IRI\II{\iri} (die den Amsterdamer Kongreß 1931\II{\wsec} machte) ein Referat über Wirtschaftsrechnung erstatten muß.\fnE{Zum 1931 vom \textit{International Industrial Relations Institute} veranstalteten \textit{World Social Economic Congress} siehe oben, Brief Nr.~\refcn{1931-08-17-Neurath-an-Carnap}.} Aber ich hoffe auch bald meine RÉSUMÉS fertig zu haben. Ich finde es herrlich, daß Du Dich sozusagen in USA ansiedelst. Denn wenn Du mal drüben bist, wirst Du Einladungen serienweise bekommen. Viel Glück! Ich werde vielleicht noch Ende dieses Jahres wegen Konsultation in Museumssachen\II{\mundaneum} hinübermüssen (Kalifornien voraussichtlich).\fnE{Erst im Herbst 1936 reiste Neurath erneut in die USA, allerdings nicht nach Kalifornien.} Sonst geht es weiter wacker mies -- aber mit Aktivität läßt sich das Leben noch eine Zeitlang ertragen. Inzwischen kommt vielleicht ohnehin das Gas -- und der Abessinische Krieg wird das Analogon zum Balkankrieg.\fnE{Der italienische Angriff auf Abessinien (Äthiopien) erfolgte schließlich im Herbst 1936; die Balkankriege 1912/13 gelten als ,,Vorspiel`` zum Ersten Weltkrieg.} Gute Grüße an alle von allen} \grussformel{Dein\\ON} \briefanhang{\textkritikl Laut Information habe ich den letzten Brief nach \uline{Hintertux} adressiert. Könnten Sie ihn sich zuschicken lassen?\\ Adresse von Morris\IN{\morris}: American Express Co. London.\textkritikr\fnAmark}\fnAtext{Hsl. Einschub von Marie Reidemeister.} \ebericht{Brief, msl., 3 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/808900}{RC 029-09-09 (Dsl. ON 220)}; Briefkopf: gedr. \original{Mundaneum Institute The Hague} mit näheren Angaben, msl. \original{Prof. Rudolf Carnap\,/\,Längenfeld} und \original{22.~August 1935}, ksl. \original{bekommen Burgstein 24.8.}.}