\brief{Otto Neurath an Rudolf Carnap, 3. August 1935}{August 1935} \anrede{Lieber Carnap!} \haupttext{ Ich bin wirklich sehr froh, daß diese erste bis jetzt aufgetauchte Schwierigkeit überwunden ist. Ich habe nun das Programm, das inzwischen weitere Vermehrung erfahren hat, neuerlich durchgearbeitet. Und sehe folgendes. (Wenn kein besonderes Bedenken entgegensteht, möchte ich in dieser Weise umgruppieren). Es sind Bedenken von Dir (und auch von mir) vorliegend, den Vormittag 16. Sept. zusehr anzustopfen. Auch hat es schwere Bedenken, den Frankvortrag\IN{\frankphilipp} mit allem zusammen zur Diskussion zu stellen. Es wäre folgendes eine ausgezeichnete Lösung. 16.~Sept. eine Eröffnungsdiskussion, aber ausschließlich \gesperrt{vorher} festgestellte Redner, so daß nichts Ungutes passiert. Z.\,B. Frank\IN{\frankphilipp} selbst und andere. Das kann geradezu nobel werden. Nachmittag kommen dann die Biologie-Physiker-Logiker dran. Auch Woodger\IN{\woodger}, der dann sehr motiviert einen guten Platz kriegt. Aber nun bleiben mir Chwistek\IN{\chwistek}, Feigl\IN{\feigl} usw. übrig, die zusammenpassen. Das geht aber alles, wenn ich folgendes mache: Induktion von Reichenbach\IN{\reichenbach}, paßt zu Poppers\IN{\popper} Empirie. Wozu ich mich bereits zur Diskussion gemeldet habe.\fnAmargin{Ksl. \original{\textsp{\unl\ unverständlich}}.} Nun ist Dein Wahrheit und Bewährung\fnE{Carnap, ,,Wahrheit und Bewährung``.} zusammengehörig usw. Andererseits ists nicht gut, Wahrscheinlichkeit mit logischen Finessen mit der derben Induktion-Empirie"-dis"-kussion zusammenzuspannen. Es ist ohnehin abnorm, daß zwei gemeinsame Redner Reichenbach\IN{\reichenbach}-\L{}ukasiewicz\IN{\lukasiewicz} reden sollen. Das alles ist sofort gelöst, wenn wir einen Tag Induktion, Empirie, Wahrheit, Bewährung erledigen -- was zusammengehört und dann Wahrscheinlichkeit. Das geht aber nur, wenn wir einen Teil der Vorträge -- was Du ohnehin empfohlen hast [--] auf den 21. verlegen. Sektionen \gesperrt{neben} der Enzyklopädie-Diskussion, für die Du als Redner mit voller Redezeit (15 Minuten) vorgesehn bist.\fnE{Carnap, ,,Über die Einheitssprache der Wissenschaft``.} Schlick\IN{\schlick} (Naturgesetze), Braithwaite\IN{\braithwaite} (Naturgesetze), Feigl\IN{\feigl} (gewissermaßen den Realismusteil von Schlick\IN{\schlick} behandelnd) und Chwistek\IN{\chwistek} schließen das Quartett. Kurzum, es klappt dann alles weit besser als bisher. Grelling\IN{\grelling}, Tranekjær\IN{}, Bernfeld\IN{\bernfeld} sind dann mit noch jemanden das Ergänzungsquartett zu dem Wahrheit-Bewäh\neueseite{} rung, Induktion-Kontrolle Problem. Da nun Bruno [de] Finetti\IN{} mit Reichenbach\IN{\reichenbach} diskutieren will, und Reichenbach\IN{\reichenbach} ohnehin einen weiteren Vortrag über Wahrscheinlichkeit angeboten hat, ists viel besser, daß am Wahrscheinlichkeitstag \L{}ukasiewicz\IN{\lukasiewicz} „führt“ und dann auch Reichenbach\IN{\reichenbach} mit Bruno de Finetti\IN{} usw. spricht. Die Wahrscheinlichkeitsvorträge wachsen unwahrscheinlich an\fnA{\original{ein}} und man muß ihnen ohnehin noch einmal einen halben Sektionstag widmen (dazu gehören natürlich auch die Leute vom ausgeschlossenen Dritten). Es freut mich, daß Du meine Mühe würdigst. Gut, daß Rougier\IN{\rougier}, der übrigens sehr nette Anregungen bringt, was Kombination von Rednern angelangt, sehr gut mit mir harmoniert. Jetzt wird Rougier\IN{\rougier}, Matisse\IN{}, Tarski\IN{\tarski}, Lutman\IN{\lutman} folgen, das ist sehr gut. Mich freut es sehr, daß Du mit Kompromiß „gemeinsame Vorträge“ einverstanden bist, da\fnA{\original{das}; eventuell gemeint auch \original{daß}.} Rougier\IN{\rougier} mir gerade gleichzeitig schrieb, daß er auch mit diesem Vorschlag übereinstimmt. Wir müssen für Männer, wie \L{}ukasiewicz\IN{\lukasiewicz} einen gemeinsamen Vortrag frei halten, auch wohl für Rougier\IN{\rougier}, wenn er schon nicht am ersten Tag spricht, dafür beschließt er den Kongreß\II{\pariserkongress}. Ich bin für \gesperrt{unbedingtes} Schließen nach 20 Minuten, weil sonst das Publikum schon aus Höflichkeit immer die weitere Gnadenfrist bewilligt, oder öfter, als es dies selbst will, besonders, wenn der Redner diesbezüglich flötet. Hingegen sehe ich keinen Einwand, in der Diskussion, wie Du andeutest, entgegenzukommen, weil ja die Diskussion kein bestimmtes Pensum absolvieren muß. Aber ich bin dafür, die Diskussionsredner, soweit sie eigentlich einen Vortrag halten wollen, möglich nach vorn zu schieben in die Vorträge, das tue ich jetzt bei Bernfeld\IN{\bernfeld}, der mit Grelling\IN{\grelling} und Tranekjær\IN{} sehr gut mit seinen psychol\editor{ogischen} Sachen zusammenpaßt, und bei mir. Enzyklopädie erscheint je nach Geld und Bedarf. Ums Kapital wird man sich kümmern müssen. Aber einzelne Hefte von etwa 2--3--4 Bogen kosten nicht viel. Du kannst aber auch 20 Minuten für Enzyklopädie-Begriffe haben. Schreib mir bitte noch einiges, was DU Dir von der Enzyklopädie erhoffst, ich wills gern mit sonstigen Hoffnungen vereinigen. \neueseite Lassen wir halt zunächst die Erkenntnistheorie nur durch Dich auflösen\fnE{Carnap, ,,Von der Erkenntnistheorie zur Wissenschaftslogik``.} -- bis wir uns über die Terminologie geeinigt haben: Logistischer Empirismus kommt gar nicht in Betracht, weil ja Menschen diesen Standpunkt einnehmen können, die sehr logisch vorgehen und sehr empirisch und nicht einmal wissen, was das ist, Logistik. Logischer Empirismus gefällt mir nicht, weil man unwillkürlich das „opposite“ denkt: „unlogischer“ Empirismus, deshalb ist mir ja selbst das „Wissenschaftlicher Empirismus“ nicht lieb. Nun ists so: Empirisme Logique -- ist etwas anderes wie Logischer Empirismus, und Scientific Empiricism ist etwas anderes wie wissenschaftlicher Empirismus. \gesperrt{Logisierender} Empirismus ist sinngemäß das beste, es besagt, daß dieser Empirismus mithilfe logischer Betrachtungsweise -- also auf logisierendem Wege viel zu erreichen behauptet! Na, sag mal was dazu? Wenn es nicht anders geht, schreibe ich „logischer“ Empirismus. Ich habe Rougier\IN{\rougier} vorgeschlagen, daß das Glockenzeichen \gesperrt{nicht} der Vorsitzende gibt, der oft wankelmütig ist und nach ganz anderen Gesichtspunkten ausgewählt wird, sondern sein Adlatus, der einfach auf den Knopf drücken \gesperrt{muß}, wenn es 20 Minuten schlägt, und dann läutets, meinetwegen auch nur kurz und laut, aber energisch. Da dieser Adlatus bleiben wird in der Erscheinungen Flucht, in jeder Sektion einer, wird er sich schon eine Technik angewöhnen, während der Vorsitzende sie lernt und ständig eine Änderung durchführt. Erinnere Dich, wie peinlich es war, daß ein Vorsitzender sich nicht entschließen konnte, energisch zu sein, und der arme J\o{}rgensen\IN{\joergensen} dabei draufzahlte\ldots{} Das darf in Paris\II{\pariserkongress} nicht vorkommen. Wir können auch Schlußrufer aneifern, sich zu betätigen. Jeder muß auf „gerechte Zeithandhabung“ rechnen können, wir sind doch nicht der Völkerbund, wo die Kleinen an die Wand gedrückt werden. Ein bisserl geschieht es ohnehin. Aber aus weiser Einsicht -- so reden immer die Bürokraten, die elendigen\fnA{\original{ölendigen}}. Bitte erreiche wirklich, daß die Besprechung\IW{\neurathrezross} von Ross\IN{\ross} kommt.\fnE{Neurath, ,,[Rezension von:] Ross, Alf, \textit{Kritik der sogenannten praktischen Erkenntnis}``.} Ich habe Meiner\IN{\meinerfelix} geschrieben, daß der Artikel über Pseudorationalismus der Falsifizierungslehre\IW{\neurathpseudo} 9 Seiten wird.\fnE{Neurath, ,,Pseudorationalismus der Falsifikation``.} Du kriegst ihn rasch. Wir werden im nächsten ERKENNTNISHEFT\II{\erkenntnis} die Programmübersicht als Stundenplan mit Generaltiteln der Gruppen sehr fein bringen und Separata davon verteilen. \neueseite Da Reichenbach\IN{\reichenbach} eben Delphinen zusieht, wenn er sich nicht von Haifischen anknabbern läßt (ob dies der Wahrscheinlichkeit 0 oder 1 sich nähert unter Vernachlässigung von\ldots{} auch \gesperrt{gleich} 0 oder 1 zu setzen ist\ldots{}), bitte schreibe Meiner\IN{\meinerfelix} umgehend, daß wir für die Pariser Programmübersicht 3 Seiten (wenn möglich 4) bekommen. Ich denke es so zu machen, daß wir wie im Prager intern[ationalen] Kongreß\II{\kongressphilosophieprag} die durchlaufenden Gegenstände mit A, B, C, benennen, das ist weniger emotionell als I, II, III. Die Sache mit den Saalnamen, die mir Rougier\IN{\rougier} schrieb, stimmt aus irgendeinem Grund nicht. Er hat mir aus der Serie der Heiligen jetzt andere Namen als in Bruxelles genannt. Wir werden später eine einfache Zuordnung vornehmen: I gleich Guizot, II gleich Descartes usw. usw. Gute Ferien, schreib bald wieder und grüße, was Dir unter die Augen kommt, insbesondere aber Dich und Inen\IN{\ina} von } \grussformel{Deinem im übrigen sich in mieser Lebenslage befindendem\\ON} \briefanhang{\textkritikl Gruß MR\textkritikr\fnAmark}\fnAtext{Hsl. Einschub.} \ebericht{Brief, msl., 4 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/808908}{RC 029-09-14 (Dsl. ON 220)}; Briefkopf: msl. \original{Prof. Rudolf Carnap} und \original{3.~August 1935}.}