\brief{Otto Neurath an Felix Kaufmann, Kopie an Carnap, 24. Juli 1935}{Juli 1935} \anrede{Lieber Herr Doktor!} \haupttext{ Da ich sehr viel für unser Institut und den Kongreß zu tun habe, antworte ich lieber sofort. Sie sagen so bemitleidend, daß der Physikalismus halt nichts anders tut, als durch gegeeignete Terminologie Scheinsätze vermeiden -- ja beim Zeus, das tut er, aber das ist \gesperrt{enorm} viel. So meinen wir. Sie betrachten glaube ich die Sache doch nicht „ernst“ genug, soweit Sie uns betrifft. Ich habe so den Eindruck, daß Sie ganz anderes wichtig nehmen, und sich nicht recht vorstellen, wie viel Kraft und Training wir der Elimination aller Scheinsätze widmen. Und ich sehe wieder einmal, wie man durch „Toleranz“ die Aussprache erschwert. Denn da ich Ihnen sozusagen die äußerste Grenze des terminologisch mir zulässig scheinenden angab, denken sie, daß der „Erdenrest zu tragen peinlich“ sozusagen in den Ramsch mit reingeht. Das tut er aber nun nicht. Tatsächlich „Lustzustand“ kann ich ganz gut physikalistisch definieren. Aber was soll das mit „Denken über etwas“ zu tun haben, das Sie nun anführen? Das ergibt bei mir höchstens: ,Denkzustand A mit Satzformulierung: „Der Tisch ist rund“‘. Aber das entspricht \gesperrt{nicht} Ihrem Denken über etwas. Es kommt der Terminus „Tisch“ vor -- gut. Und ich könnte z.\,B. diesen Satz ,,Der Tisch ist rund`` der da formuliert wird daraufhin betrachten, ob er in unserer Enzyklopädie losgelöst von den anderen Angaben \gesperrt{verwendbar} ist, dann sagen wir, es sei eine Wirklichkeitsaussage. Aber wenn Sie so verfahren, \gesperrt{dann haben Sie keinen Anlaß zu Spekulationen über das} „Denken über etwas“. Das ist ja der Grund, weshalb ich immer wieder Sie und andere bitte, an \gesperrt{einem Beispiel} zu zeigen, was \gesperrt{konkret} bei Ihrer Denkweise herauskommt und was bei unserer. Ich behaupte nämlich, daß wir uns über das, was in die Realwissenschaften eingeht, verhältnismäßig rasch einigen können, daß dann aber bei Ihnen noch eine Menge methodologischer und anderer Sätze stehn, die \gesperrt{wir nicht haben, die wir aber auch gar nicht benötigen}, da sie ohne Zusammenhang mit dem stehen, worüber wir uns einigen konnten. Also den Terminus „Denken über etwas“ beanstande ich \gesperrt{sehr}. Darüber hat Carnap goldene Worte in goldenen Schalen serviert. Sie sehn im schlampigen Schreiben, sagen wir auch „darüber“, aber wir können das weglassen, ohne daß uns eine Perle aus der Krone fällt, während bei Ihnen dort gerade das Königreich beginnt. Ich \gesperrt{wäre aufrichtig froh, wenn wir eine gemeinsame Basis finden könnten}. Ich wüßte wenige Menschen, denen ich lieber zugestehen würde, daß dies und jenes sich machen läßt. Gerade, weil man zu Ihnen so völlig freundschaftlich steht und an Ihnen kein Ärgernis nimmt, ist so absolut klar, daß Sie Metaphysik treiben. Aber vielleicht finden Sie mal die Zeit an einem \gesperrt{konkreten Beispiel mir zu zeigen, was Sie für Prognosen machen können, auf die ich verzichten muß}. Aber Sie zitieren sogar Schiller. Und so möchte ich doch bitten zu zeigen, wo mans bei mir vor Tisch anders las. Ich behaupte nach wie vor, daß alles, was in den Realwissenschaften an Formulierungen von uns zugestanden wird, in der Sprache des Physikalismus formulierbar ist. Siehe oben „Lustzustand“ -- den ich zugestehe -- ist selbstverständlich ein Zustand irgendwo und irgendwann, durch Zustandsgröße mit Zeit- und Raumkoordinaten \gesperrt{eventuell} bestim\gesperrt{mbar}. Ob mans immer schon kann, was anderes. So wie der Ausdruck: „Jetzt gewitterts“ reichlich unbestimmt, aber prinzipiell bestimmbar ist. Und wenn ich gegen den Satz mit „Denken über etwas“ mich wende, so deshalb, weil ich nicht sehe, wie Sie ihn im Rahmen Ihrer Denkweise ins Physikalistische \neueseite{} transponieren können. Ich behaupte also nach, wie vor, daß dort, wo es heißt: Ich empfinde Schmerz, man als Physikalist die Formulierung z.\,B. bereithält: „Ottos Protokoll: Otto im Schmerzustand“ und aufgelöst und anerkannt: „Otto (wirklich) im Schmerzzustand“. Es würde also ein Satz wie: „Mein Protokoll spricht über Ottos Schmerzzustand“ physikalistisch aufgelöst heißen: Im Protokoll tritt der Terminus Otto in Verbindung mit anderen Termini auf, derart, daß diese Verbindung losgelöst von der Protokollklammer auch in einem Satz der „Enzyklopädie“ unseres Wissens auftreten könnte, d.\,h. es könnte auch vorliegen: „Peters Protokoll: Otto im Schmerzustand“. Wieso ist das eine Einschränkung? Was wird verboten? Außer einer umfangreichen „isolierten“ Satzmasse, die wir eben wegen ihrer Isoliertheit Metaphysik nennen. Ach, lieber guter Kaufmann, schreiben Sie mir ein einziges Mal etwas über ein konkretes Beispiel, an dem wir das demonstrieren können. Sie fragen mich ganz sokratisch „Und nun lieber Physikon, was deucht Dich\ldots{} und solltest Du nicht\ldots{}“ und ich muß erwidern „Ach lieber Eutychon, ich muß zugestehn\ldots{}, wenn auch andererseits\ldots{}“. Ich hoffe sehr, wir sehn uns irgend wann wieder, jedenfalls werde ich Ihr Buch ebenso liebevoll wie gründlich studieren, denn ich möchte ernsthaft \gesperrt{möglichst viel Gemeinsames} feststellen. Aber aus Ihren Schillerschen Worten entnehme ich, daß Sie sogar die Konstanz meiner Normalanschauung zu übersehen neigen, was immerhin schmerzlich berührt Ihren Sie und Ihre liebe Frau wie immer herzlich grüßenden } \ebericht{Brief, Dsl., 2 Seiten, \href{https://doi.org/10.48666/808949}{RC 029-09-20 (weiterer Dsl. ON 255)}; Briefkopf: msl. \original{Carnap}, \original{Dr Felix Kaufmann Wien} und \original{24. Juli 1935}; Unterschrift fehlt auf Durchschlägen.}